Eine Reportage von Oliver Wieters
Frankfurter Rundschau, 18.12.2004
WENN DIE SONNE über dem Schweizer Simmental aufgeht, ist das Team von Verena Linder meistens schon auf den Beinen. Mit wedelndem Schwanz warten Shorty, Cherry, Ruska und ihre Kollegen darauf, daß in dem 200 Jahre alten Bauernhaus – einem für das Berner Oberland typischen Fleckenbau mit großem Ziegeldach – das Licht angeht. Gegen 4 Uhr öffnet die 37-jährige Schweizerin das Gatter zum Freiluftgehege, gähnt, streicht sich die langen Haare aus dem offenen Gesicht und schiebt einen blauen Eimer mit Futter vor sich her. Wie eine Mutter, die ihre verwöhnten Kinder zu Tisch bittet, begrüßt sie jeden einzelnen der 28 robusten Hunde mit Namen. Die kräftigen und laufbegeisterten Tiere — darunter 18 wolfsfarbene Huskies und acht überwiegend braune Grönlandhunde – wissen instinktiv, daß es bald los geht und stürzen sich voller Vorfreude auf die mit Trockenfutter vermischte Kraftsuppe: Seit fünf Jahren, so auch heute, fahren Verena und ihr acht Jahre älterer Partner René Minartz, die Inhaber von „Loschadej’s Huskypower”, in aller Herrgottsfrühe auf den schneebedeckten Glacier 3000, wo sie Passagierfahrten für Schlittenhundefreunde anbieten.
Vom einstigen Kurort Weissenburg, dessen Thermalquelle im 19. Jahrhundert den Adel der Welt anzog, begeben sich Verena und René mit einem weißen Toyota Transporter samt Anhänger zum Col de Pillon bei Gstaad, von dort mit der neuen Seilbahn in 15 Minuten hinauf zum Diablerets Gletscher. In den großen Gondeln finden 125 Personen Platz, doch am Morgen wird ein gutes Drittel des Raums von den Hunden in Anspruch genommen, die sich an ihren bunten Leinen wie ein ausgedrückter Malerpinsel ordentlich auf dem Boden verteilt haben: René ist ihr uneingeschränkter Chef, während Verena wegen ihres Sanftmutes von den eigenwilligen Tieren zur Vizechefin degradiert wurde.
Hundert Meter Fußweg unterhalb der Bergstation, fast 2900 Meter hoch, warten die ersten Kunden: Gutgelaunte Touristen aus aller Welt, darunter Familien aus Dubai und aus Indien. Verena, eingehüllt in eine flauschige Fleecejacke und atmungsaktive Goretext-Fasern, begrüßt die bunte Gruppe herzlich und mit der Offenheit eines Menschen, der die Menschen nimmt, wie sie sind. Die teure traditionelle Kleidung weist die Besucher als wohlhabend aus, ihre Strandsandalen als unerfahren. Für viele ist es der erste Schnee ihres Lebens, den sie mit einer Mischung aus kindlicher Freude und ungläubigem Staunen in die Hände nehmen. Am häufigsten muß Verena die Frage beantworten: „Wo bitte geht’s zum Gletscher?” „Sehen Sie nach unten”, antwortet sie dann mit einem verschmitzten Lächeln. „Sie stehen drauf!”
Manchmal kommt es sogar vor, daß Gäste ihre eigenen Vierbeiner mitbringen, die im Rudel mitlaufen sollen. „Voraussetzung ist eine gute körperliche Fitneß der Hunde und die Bereitschaft der Besitzer, Verantwortung zu übernehmen”, erklärt ihnen dann Verena. „Ziel ist es, mit Rücksicht und Toleranz gegenüber Tier, Natur und Mensch das Ziel zu erreichen.” Die meisten Besucher sind aber wegen Loschadej’s Hunden gekommen und wegen der einmaligen Aussicht vom Glacier 3000. Das Panorama mit dem Matterhorn und dem Mont Blanc ist einfach atemberaubend, die Schlittenfahrt auf dem schmalen alpinen Längspaß ein unvergeßliches Erlebnis: „Teamwork im wahrsten Sinne des Wortes und die Möglichkeit, so richtig Energie zu tanken!“, wie Verena schwärmt.
Ein Hauch von Antarktis liegt über dem Gletscher als Verena das Team mit den Befehlen „Hike!”, „Haw” und „Gee”, für los, links und rechts, geschickt über das flache vereiste Gelände dirigiert. Die wolfsähnlichen Hunde laufen mit heraushängenden blutroten Zungen, die Zugleine spannt sich über ihren gewölbten Rücken – ein Zeichen, daß sie gut arbeiten. Jeweils acht bis 14 Hunde ziehen mühelos einen Schlitten mit vier Passagieren und einem Musher, der Bezeichnung für den Lenker des Schlittenhundegespanns. An manchen Tagen ist der Andrang so groß, daß zwei Schlitten eingesetzt werden müssen. Alle Hunde des Gespanns kennen den Weg, aber am sichersten fühlt sich Verena, wenn Shorty und Cherry an der Spitze laufen. Zu ihnen hat Verena ein besonderes Verhältnis: „Sie sind etwas Wunderbares. Ohne sie wäre mein Leben ganz anders verlaufen.”
Noch vor zehn Jahren spielte sie mit dem Gedanken, auszuwandern – so sehr hatte sie die Zivilisation satt. Schon als Kind war sie in die Natur vernarrt, hatte mit ihrer Familie lange Bergtouren in den Schweizer Alpen unternommen.
Bei Bauern in der Nähe von Zürich durfte sie die Pferde pflegen, ritt stundenlang ohne Sattel durch die Wälder oder im Herbst über die Stoppelfelder. „Ich war ein verträumtes Mädchen, wußte Lange nicht, was aus mir werden sollte.” Sie entschied sich nach langem Zögern, den Beruf der Werklehrerin zu ergreifen. im März 1994 besuchte sie Freunde in Kanada, die nach Yukon auswandern wollten. „Ich sehnte mich nach Einsamkeit, Ruhe und noch mehr Natur.” Tagelang wanderte sie mit ihnen durch den Katmai-Nationalpark in Alaska, war begeistert von den riesigen Seen, den freilebenden Bären, der unberührten Natur, die Respekt abnötigt. Neun Monate Winter und selbst im Hochsommer Nachtfrost! Für Verena war diese Welt wie eine Offenbarung. „Eine Traumlandschaft! So muß es früher in der Schweiz ausgesehen haben!” Während dieser Wochen, die ihr wie Jahre vorkamen, fand sie die innere Ruhe wieder, die ihr zuletzt so gefehlt hatte: „Wir lebten nach dem Tag, richteten uns nach den Tageszeiten und dem Licht.”
Die Rückkehr in die Zivilisation war ein Schock: „Während des Anflugs auf den Flughafen Kloten fiel mir beinahe die Decke auf den Kopf: Die freie Sicht auf die Autobahnen, Siedlungen und Häuser machte mich fast krank.” Verena beschloß, unbezahlten Urlaub zu nehmen und kehrte schon Ende Februar 1995 mit ihrem damaligen Freund für einen Monat nach Kanada zurück. Die Versuchung, auszuwandern, war riesig – wären da nicht die Eltern gewesen, ihr kleines Haus bei Grindelwald und die fehlende berufliche Perspektive im Yukon. Den Ausschlag aber gaben Shorty und Cherry: Ihre Freunde waren inzwischen im Kanadischen Haines Junction seßhaft geworden, hatten die putzigen Welpen adoptiert, weil sie von ihrem früheren Besitzer erschossen werden sollten. „Ich nahm die Wollknäuel in den Arm und schon war’s um mich geschehen”, erinnert sich Verena. „So kam es, daß ich mir ein Stück Kanada mit in die Schweiz nahm.”
Zurück in der Schweiz beschloß sie, nur noch Teilzeit zu arbeiten und begann damit, Shorty und Cherry zu trainieren – zuerst zu Fuß, dann mit einem Fahrrad, schließlich als Teil eines Gespanns, das am Eigergletscher und Jungfraujoch im Einsatz war. „So lernte ich René kennen, der elf Jahre lang Polarhundeführer auf Eigergletscher war und mir entscheidende Tips gab.” Der gebürtige Holländer hatte sich bereits einen Namen in der Schlittenhund-Rennszene gemacht und sich 1988 für den Iditarod, das härteste Hundeschlittenrennen der Welt, qualifiziert.
Ein gedehntes „Wohooo!” und die Hunde bleiben stehen. Während die Touristen tief beeindruckt und ohne auf die eisigen Zehen zu achten zur Bergstation zurückstapfen als würden sie aus Sibirien zurückkehren, schweift Verenas Blick über die schneebedeckten Berge am Horizont. In der Ferne schwebt eine Gondel in klarer blauer Luft über einem glänzenden Nebelmeer. Cherry, Verenas „kleine Prinzessin”, blickt gähnend umher. Beim Laufen hat Verena wieder Bilder von unschätzbarem Wert aufgenommen, die ihr jedes Mal fehlen, wenn sie nicht unterwegs ist. Sie hat erkannt, daß die Freiheit nicht immer in der Ferne liegt. „Die Schönheiten der Natur und die Harmonie zwischen Mensch und Tier kann man auch vor der eigenen Haustür erleben. Man muß es nur wollen!”, sagt sie und wendet den Schlitten.
INFO
Loschadej’s Huskypower wurde 1999 in Weissenburg gegründet und bietet zahlreiche Aktivitäten und Artikel rund um Huskies und Hundeschlitten an. Der Name Loschadej ist russisch und bedeutet Gefährt, das von Tieren gezogen wird. Die Fahrten auf den Glacier 3000 (www.glacier3000.ch) finden zwischen Juni und Oktober statt. Zwischen September und Ende Juni bieten Verena und René Minartz, die beiden Inhaber, auch Firmenausflüge und individuelle Ausbildungskurse mit eigenem Gespann an. Ein besonderes Highlight: Romantische Abend-, Fackel- und Vollmondfahrten mit Glühwein, Aperitif und anschließendem Fondueplausch in einer Alphütte. Weitere Informationen finden sich im Internet unter www.huskypower.ch. Informationen zu geführten Touren durch den Yukon bei: www.glanzmanntours.ch. Die Faszination Hundeschlittenrennen wird von Gary Paulsen eindrucksvoll in seinem Buch „Iditarod. Das härteste Hundeschlittenrennen der Welt“ (München 2000) eingefangen.