Von Oliver Wieters
„Memento mori“ – den Tod zu bedenken – war Utz Jeggle, Professor für Empirische Kulturwissenschaften am Ludwig-Uhland-Institut, in den Haspelturm des Tübinger Schlosses gekommen, wo er vor rund 50 Interessierten über das Thema „Sterben in der traditionalen Welt“ referierte. Jeggle bezeichnete seinen Vortrag als einen Versuch, „unsere eigene Sterblichkeit ein wenig besser akzeptieren zu können“. Der Vortrag fand im Rahmen der Ausstellung „Von den letzten Dingen. Tod und Trauer auf dem Land“ statt, die noch bis zum 3. Dezember 1989 im Haspelturm zu sehen ist.
Es konnte niemanden verwundert haben: Auch in der Vergangenheit „war der Tod genauso tödlich“ wie heute und die Kunst des Sterbens und des Trauerns ein ebenso schwieriges Geschäft. Aber in jener vergangenen Zeit, die Utz Jeggle modellhaft als die „traditionale Welt“ bezeichnete, existierte noch eine Reihe institutioneller Absicherungen, die „das Sterben in das diesseitige Leben integrierten“. Die Spannung zwischen traditionaler und moderner Welt sei nicht auflösbar, was vergangen ist, sei für unsere Lebensentwürfe nicht mehr praktikabel. Aber wir könnten sehen, wie es andere Gesellschaften mit dem Sterben hielten: „Vielleicht hilft es uns, unsere eigene Sterblichkeit ein wenig besser akzeptieren zu können.“
Das Eingebundensein des Menschen in den Rhythmus von Werden und Vergehen machte den Tod zur öffentlichen Sache, die Vorbereitung auf das Sterben ging einher mit der Angst, verlassen zu sterben. Sterbezimmer waren Orte öffentlicher – nicht wie heute rein privater – Anteilnahme: „Da wurde es in der Kammer oft so voll, dass auch schon mal die Zimmerdecke durchbrach oder der Sterbende vor lauter Neuigkeiten ganz in Vergessenheit geriet.“ Der Tod betraf alle, auch die Nachbarn und die ganze Dorfgemeinde. Sogar Tieren wurde der Tod eines Menschen angekündigt: „Die Bienenstöcke wurden verrückt, den Kühen erzählte man, jetzt ist dein Meister gestorben, damit sollte Unglück im Stall und ein störrisches Wesen der Tiere verhindert werden.“
Diese Rituale, heute als Ausdruck einer unechten Gefühlswelt verpönt, entlasteten den Trauernden, indem sie ihm das Eingebundensein des Todes (und der Trauer) in einen höheren Gang der Dinge nahebrachten. Aber das Sterben blieb dennoch eine Pein, Angst und Schrecken vor dem Tod suchten Entlastung in vielgestaltigen Versuchen, ihn zu überlisten, zu leugnen oder in anderer Weise nicht wahrhaben zu wollen. Erst die Aufklärung räumte mit den abergläubischen Vorstellungen vom Sterben auf: An die Stelle traditioneller Bilder vom Sterben trat die Vorstellung vom „natürlichen“ oder „angstfreien“ Tod. Der Preis war, „dass die Wissenschaft auch nicht mehr fähig war, Trost zu spenden und damit etwas zum Verständnis des Todes beizutragen“. Der Tod, zu einem rein physikalisch beschreibbaren Vorgang degradiert, wurde in „einfache, nützliche Gleichungen“ aufgelöst. Der Tod schien nicht mehr an das Lebensschicksal gebunden zu sein und geistert „befreit von den Fesseln der Vorstellungen und Bilder durch alle möglichen Krankheiten, Phantasien und Träume“.
Die Toten emanzipierten sich von den Lebenden, während sie in der traditionalen Gesellschaft eine Art Eigenleben führten, aus dem heraus sie das Sein der Lebenden mitbestimmten: Die Toten hüteten Moral und Gesetz und hatten sogar eigene Ansprüche. Häufig war der Kontakt zu den Toten so überwältigend, „dass den Lebenden kein Raum für neue Entscheidungen“ mehr blieb. Wirkliche Trauerarbeit im Sinne allmählicher Ablösung vom verlorenen Objekt war häufig schwer möglich.
In der modernen Welt wurde die Angst vor dem Tod unfasslicher und dadurch das Sterben unheimlicher: Seitdem die symbolischen Bilder des Todes ärmer wurden, sei die Überwindbarkeit des Todes trotz aller medizinischen Anstrengungen eine blanke Illusion geblieben. „Nicht mehr Fülle des Lebens, sondern Länge des Lebens wurde bestimmend.“ Aber Jeggle warnt vor einer Idealisierung der traditionalen Gesellschaft: Im Regelfall sollte ein „warmer Tod ein kaltes Leben bedecken“.
Die traditionale Gesellschaft mit ihren Riten und Kulten biete nichts, das für unsere heutigen Lebensentwürfe noch praktizierbar würde: „Wir können nur denkend innehalten, indem wir sehen, wie es andere mit dem Sterben hielten, vielleicht hilft es uns, unsere eigene Sterblichkeit ein wenig besser akzeptieren zu können.“
Prof. Utz Jeggle ist am 18.09.2009 in Tübingen gestorben. http://de.wikipedia.org/wiki/Utz_Jeggle