Gutachten / Votum zu Paula E. Hyman, Gender and Assimilation in Modern Jewish History. The Roles and Representation of Woman, Seattle & Washington: University of Washington Press, 1995. 197 Seiten.
Dieses im Rahmen einer Vorlesungsreihe an der Universität von Washington entstandene Buch setzt sich in origineller und kenntnisreicher Weise mit einem wesentlichen Aspekt der jüdischen Geschichte in der Moderne auseinander, dem die anfängliche Forschung nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet hat: der besonderen Erfahrung und Funktion von Frauen innerhalb des jüdischen Emanzipationsprozesses. Die Autorin Paula E. Hyman ist Professorin für Moderne Jüdische Geschichte an der Universität von Yale und hat sich in dieser Position besonders mit der Geschichte der französischen Juden beschäftigt. Obwohl die Autorin ihr Buch als „Herausforderung“ versteht, verzichtet sie weitgehend auf Polemik und Glättungen. Es bietet eher eine auf viele Beispiele aufgebaute Sichtung des Forschungsgebiets, das in Hinsicht auf die allgemeine Geschichte der Juden schon weitreichend ausgeleuchtet wurde. Hymans Kritik richtet sich gegen eine bestimmte Tendenz ansonsten verdienstvoller Arbeiten wie die von Jacob Katz, die den Prozeß der Emanzipation und Assimilation der Juden als ungemein schnell und einschneidend bezeichnet haben, aber dabei ausschließlich den Erfahrungsraum einer kleinen Gruppe urbaner jüdischer Männer im Blick hatten. Der Aspekt der Geschlechtsdifferenz, gender, jener „Scheidung der Geschlechter in sozialer und hierarchischer Hinsicht“ (12) wurde von ihnen ausgeklammert.
Denn obwohl sich auch die jüdischen Frauen der ersten Generation der Emanzipation assimilierten, erfuhren sie geringere Veränderungen ihrer aus ihrer Kindheit vertrauten Kultur als die jüdischen Männer, die anders als ihre Frauen in der nichtjüdischen Gesellschaft ökonomischen und sozialen Erfolg suchten. Ausnahmen von der Regel, zum Beispiel die jüdischen Damen der jüdischen Salons in Berlin, machten Erfahrungen, die von der Mehrheit der Jüdinnen erheblich abwichen. Während die meisten Männer ihre religiösen Gebräuche erstaunlich schnell ablegten, hielten ihre Frauen weitaus stärker an deren Befolgung fest. Denn die bürgerliche Kultur, an die sich die Juden assimilierten, wies der Frau eine häusliche Rolle zu, die, anders als bei der neuen Lebensweise der jüdischen Männer, in keinem grundsätzlichen Widerspruch stand zu den traditionellen religiösen Pflichten der jüdischen Mutter (Stichwort „domestic Judaism“). Um das Wesen der jüdischen Emanzipation wirklich zu verstehen, so Hyman, müsse man deshalb die jüdische Privatsphäre stärker in den Blick nehmen. Sie ist der Ort, an dem die „Paradoxa der Assimilation“ (so die Überschrift des ersten Kapitels), das heißt insbesondere die Widersprüche zwischen Projekt und Prozeß, besonders zum Tragen kommen. Im Zuge der Emanzipation wurde der jüdischen Frau immer stärker die Rolle einer Bewahrerin der jüdischen Tradition zugewiesen, wie Hyman anhand verschiedener Beispiele deutlich macht. Um die jüdische Identität der Nachgeborenen sicherzustellen, wurde den Müttern gestattet, Aufgaben zu übernehmen, die sie letztlich aus dem privaten in den öffentlichen Bereich führten. Dazu gehörte insbesondere der Bildungssektor. Insofern die Haltbarkeit der jüdischen Identität im Laufe der Assimilation abbröckelte, wurden besonders die Mütter im Sinne dieser Ideologie dafür verantwortlich gemacht. So machten die Frauen eine paradoxale Erfahrung: Einerseits wurde ihre Rolle weiterhin konservativ bestimmt, andererseits wurde ihnen in Maßen der Eintritt ins öffentliche Leben ermöglicht. Die Unterschiede zwischen westlichen und osteuropäischen Modell der Assimilation werden von Hyman in ihrem zweiten Kapitel vertieft. Im dritten wendet sie sich ihrem eigenen Heimatland zu, den Vereinigten Staaten, in der sich das Problem der Assimilation im Sinne vom Mythos des amerikanischen „melting pots“ besonders scharf stellte. Die Amerikanisierung der jüdischen Einwanderer vollzog sich ungemein rasch, zumindest was die Annahme äußerer Zeichen, zum Beispiel der Kleidung und Lebensgewohnheiten betrifft. Besonders auf dem Bildungssektor hatten jüdische Frauen große Erfolge aufzuweisen, mit einer Folge, daß die Autorität der minder gebildeten Eltern in Frage gestellt wurde. Die daraus entstehenden psychologischen Probleme wurden nur selten offen thematisiert. Die jüdischen Mütter, die aus (Ost-)Europa eingewandert waren, lebten besonders in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen unter den Zwängen eines schmerzhaften Paradox‘: Sie bereiteten ihre Kinder auf ein erfolgreiches Leben in Amerika vor, dem sie ihrerseits zeit ihres Lebens als Fremde gegenüberstanden. Das problematische Verhältnis zur jüdischen „Mama“, wie sie bei Philip Roth („Portnoys Complaints“) oder Woody Allen dargestellt wird, läßt sich vor diesem Hintergrund besser verstehen.
Hyman vertieft ihre Einsichten in ihrem letzten Kapitel über die „Geschlechterpolitik der jüdischen Identität“. Sie betrachtet das Phänomen des jüdischen „Selbsthasses“ unter dem Aspekt der jüdischen Misogynie. Insofern die nichtjüdische Gesellschaft den Juden feminine Attribute zuwies, nahm auch der aufkommende Zionismus angebliche jüdische Gebrechen unter Beschuß und versuchte sie im Namen des „Muskeljudentums“ (Max Nordau) zu bekämpfen. Viele jüdische Männer verdrängten ihren Selbsthaß und lenkten ihn auf die jüdische Frau ab, so Hyman. Auf diese Weise wurde der ansatzweise erfolgreiche Weg der jüdischen Frau ins öffentliche Leben zunehmend blockiert.
Hymans in klarer und leicht verständlicher Sprache geschriebenes Buch verdeutlicht das Problem aller Perspektivität von Forschung: Es füllt in dieser Hinsicht mehr als nur eine Lücke. Es wirft neues Licht auf altbekannte Probleme: Ihr Einwand gegen eine Frauen-vergessene Erforschung der jüdischen Assimilation ist ebenso einleuchtend wie für die angesprochenen Historiker peinlich. Diese Differenzierung konnte allerdings erst auf der Grundlage der ausgiebigen allgemeinen Erforschung möglich sein. Sie ist in dieser Hinsicht ein „post“ Produkt, dessen Verbreitung und Kenntnisnahme wichtig und unvermeidlich ist. Von Hymans Buch dürften interessante Impulse auf die Diskussion auch in Deutschland ausgehen. Es nähme, neben zum Beispiel einem Buch wie dem von Sander L. Gilman, einen guten Platz in der Palette des Jüdischen Verlags ein und sollte hier veröffentlicht werden.
Oliver Wieters
Frankfurt am Main, am 26. Februar 1998
Nachtrag:
Paula Ellen Hyman (1946-2011) war von 2004 bis 2008 Lucy Moses Professorin für moderne jüdische Geschichte an der Yale University und Präsidentin der American Academy for Jewish Research. Sie war auch die erste Dekanin des Seminary College of Jewish Studies am Jewish Theological Seminary von 1981 bis 1986.