Wieters-Salaud-Zuerich-2008.pdf
Von Oliver Wieters (1997)
Dieses atemlose blinde Spiel …
Rainer Maria Rilke
„Salaud!“ brüllte der kleine Mann.
Gall zuckte zusammen. Er fühlte sich ertappt, obwohl es dafür keinen vernünftigen Grund gab. Wer konnte ihm schon den Weg von Tel Aviv bis nach Paris gefolgt sein? Er zitterte, seit er die Stimme des Unbekannten hinter sich gehört hatte, der ihn so übel als einen Saukerl beschimpft hatte. Gall war entschlossen, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. Vielleicht handelte es sich um eine Verwechslung? Er versuchte unauffällig weiterzugehen. Auf der Höhe des Denkmals für die im Krieg gefallenen französischen Studenten überholte ihn eine Joggerin und hüllte ihn in eine Wolke aus Schweiß und Deodorant ein. Nachdem sie an ihm vorbei war, atmete Gall tief durch. In dem Moment ertönte wieder der Ruf.
„Salaud!“
Diesmal war er noch lauter. Gall blieb stehen. War dies am Ende der Augenblick, vor dem er sich so gefürchtet hatte? Gall drehte sich langsam um. Zuerst konnte er nichts sehen, weil er von der untergehenden Sonne geblendet wurde. Dann tauchten in einiger Entfernung die Umrisse eines Mannes auf, der haßerfüllt in Galls Richtung blickte. Galls Herz machte einen Sprung. Aus den Augenwinkeln heraus suchte er seine Umgebung ab. Kurz vor Schließung des Parks waren nur noch wenige Besucher im Jardin du Luxembourg. Ein paar Jogger drehten ihre letzte Runde, und ein alter Mann schüttete seine restlichen Brotkrümel vor den Tauben aus. Schon hatten die Parkwächter damit begonnen, die Passanten herauszukomplimentieren. Auf die Hilfe der Polizisten, die rund um das Palais, dem Sitz des Senats, postiert waren, konnte Gall ohnehin nicht hoffen. Das Risiko, von ihnen erkannt zu werden, war zu groß. Er war auf sich allein gestellt. Er konzentrierte sich auf die Waffe in seinem Trenchcode. Er umfaßte ihren Griff und entsicherte sie. Dann atmete er tief durch und ging auf den Mann zu.
Der Kleine schrie immer noch: „Das tust du nie wieder! Hörst du? Nie wieder!“ Dem Akzent und dem Aussehen nach war er ein Nordafrikaner, vermutete Gall, vielleicht aus Algerien. Gerade wollte Gall etwas erwidern, als ihm beide Beine weggezogen wurden. Im Stürzen dachte er noch daran, daß seine Waffe entsichert war und sich ein Schuss lösen konnte.
Nichts dergleichen passierte. Statt dessen spürte er das weiche Fell einer großen Dogge, die kraftvoll über ihn hinwegsprang. Der Hund erreichte sein Herrchen und lief laut bellend um ihn herum. Der Algerier holte weit mit der Leine aus und ließ sie mit voller Wucht auf das Tier niedersausen. Im ersten Moment verstand Gall nicht; dann wurde ihm die Situation blitzartig klar. Halb kniend sah er dem kleinen Algerier zu, der seinen Hund beim Kopf gepackt hatte und ihn wild hin und her schleuderte. Am Ende blieb von dem armen Tier, dessen Kraft dazu gereicht hatte, Gall mit Leichtigkeit umzureißen, nur noch ein Häuflein Elend zurück, das winselnd zu Füßen seines Besitzers lag. ‚Herrchen wäre in diesem Fall sicherlich ein Euphemismus‘, dachte Gall.
Mit lauten Pfiffen aus ihren Trillerpfeifen mahnten die Polizisten die letzten Passanten dazu, den Park zu verlassen.
Der kleine Mann stand mit erhobenem Haupt vor seinem Hund und blickte ihm wie ein Ölgötze Sekunden lang in die Augen. Gall fühlte sich an das Bild eines strengen Vaters erinnert, der seinen unartigen Sohn straft. Das Tier winselte um Vergebung, wobei es den Kopf zur Seite geneigt hielt.
Plötzlich ging eine Verwandlung in dem Algerier vor. Er umgriff die gewaltige Dogge mit beiden Armen und überzog sie wie einen verlorenen Sohn, der plötzlich heimkehrt, mit dutzenden Küssen. Der Hund bellte laut und sprang freudig an seinem Herrchen hoch. Gall sah zu, wie Herr und Hund in trauter Eintracht den Park verließen.
Gall atmete tief durch und sicherte seine Waffe. ‚Noch ‚mal Glück gehabt‘ sagte er zu sich selbst und und setzte seinen Weg fort.
‚Saukerl‘, schimpfte er vor sich hin. Immerhin konnte er schon wieder lächeln. Der Wächter am Tor zum Boulevard Saint Michel grüßte freundlich, als Gall zitternd an ihm vorüberging.