Von Oliver Wieters, Hamburg
Mach den Ort aus, machs Wort aus. Lösch. Miß
(„DEINE AUGEN IM ARM“)
Und singst du, wahr, und hast getreu gesungen, aus voller Brust, so merkst du: kaum dass etwas blieb – es ist geschwunden, bis auf den Sänger und den Sternenraum.
Ossip Mandelstamm
Deutsch von Paul Celan
Celan hat zeitlebens energisch bestritten, dass seine Lyrik hermetisch sei. Er bezeichnete seine Gedichte als „ganz und gar nicht hermetisch“ und betonte, dass seine Gedichte nicht kodiert sind, sondern dass „jedes Wort [..] mit direktem Wirklichkeitsbezug geschrieben [wurde]“:
„Ich bin für Verständlichkeit, sogar Gemeinverständlichkeit; nur wollen auch diese präparierten Druckplatten, französisch ‘cliché’ genannt, kein Klischee sein…“
Er selbst nannte seine Gedichte nicht hermetisch, sondern, in Anlehnung an ein Wort Rilkes, „Einfriedungen um das grenzenlos Wortlose“ . Als ihn sein späterer Biograph Israel Chalfen um die Interpretation eines Gedichtes bat, antwortete Celan „sanft und melodisch“:
„Lesen Sie! Immerzu nur lesen, das Verständnis kommt von selbst“ .
Offensichtlich ist Celans Auskunft gegenüber Chalfen allerdings nur schwer vereinbar mit der Erfahrung von Lesern, deren Erkenntnisdrang vom Gedicht immer wieder in die Schranken gewiesen wird. Die daraus entstehende Frustration provoziert beinahe automatisch Etiketten wie „unverständlich“, „dunkel“, „kryptisch“ oder eben „hermetisch“. Hans–Georg Gadamer hat diese Erfahrung als Prozess von „Sinn und Sinnverhüllung“ beschrieben: „Man fühlt die Attraktion eines genauen Sinnes und hat zugleich das Bewusstsein, dass dieser Sinn sich zurückhält, wenn nicht gar kunstvoll verhüllt ist.“ Aber noch die Rede vom kunstvoll verhüllten Sinn hält die Hoffnung wach, die Bedeutung des Gedichts vollständig zu verstehen. Wenn überhaupt, so entspricht Celans Gedicht allerdings nur in wenigen Fällen dieser Hoffnung. Weder ausgezeichnete Kommentare, die schwerverständliche Stellen in einen Bezugsrahmen stellen, noch zahlreiche (auto–) biographische Mitteilungen von Zeitzeugen und Freunden des Dichters noch theoretische Erwägungen haben bisher dieses Bedürfnis, das ohne Frage ein leitendes Erkenntnisinteresse beim Lesen eines Gedichts ist, ganz erfüllen können. Deshalb läßt sich mit einigem Recht sagen, dass Celans Gedicht jegliche Interpretation nachhaltig in Frage stellt. Faute de mieux drängt sich für Celans Gedicht, das diese Fragen provoziert, der Begriff „hermetisch“ auf. In ihn gehen die Leseerfahrungen ebenso ein wie poetologische Reflexionen über die Konstitution des Gedichts.
Andererseits ist kein Gebilde der Sprache, auch kein Gedicht Celans, völlig unverständlich. Die Idee einer Privatsprache ist in sich widersprüchlich, weil Sprache auf Konventionen beruht, andernfalls sie keine Sprache wäre. Deshalb gilt auch für Celans Gedicht: „No Poem is ever totally hermetic“ . Aber es kann sein, dass wir die Sprache erst lernen müssen, bevor wir sie verstehen, geschweige denn sprechen können. Beda Allemann hat daraus eine Verpflichtung gemacht:
„Das Gedicht rechnet auf einen, der sich die Mühe macht, seine Sprache zu lernen, selbst dort noch, wo das aussichtslos erscheint.“
Wenn sich der Leser die Möglichkeit offen halten will, doch noch zu verstehen, so tut er gut daran, den Anspruch Celans ernst zu nehmen und „immerzu zu lesen“. Er selbst hat übrigens das Werk des russischen Dichters Ossip Mandelstamm, dem er sich tief verbunden fühlte, als „offen und hermetisch zugleich“ bezeichnet. Zwischen diesen beiden Polen soll hier Celans Gedicht verordnet werden.
Der Begriff des Hermetismus muß um die Kategorie der Offenheit erweitert werden, wenn Celans Poetologie entsprochen werden soll. Vor diesem Hintergrund steht die folgende Diskussion von Celans vermeintlicher Hermetik. Dabei ist zuerst nach dem Begriff selbst zu fragen, dann nach den Gründen, anschliessend nach der Legitimation und zuletzt nach Erscheinungsweisen der Hermetik bei Celan. Am Ende geht es um die Praxis des Lesens hermetischer Lyrik, exemplifiziert an einem Gedicht aus Celans Spätwerk.
Der Umstand, dass der Begriff der Hermetik das Versprechen macht, zwischen Celans Gedichten und der „modernen Lyrik“ vermitteln zu können, hat wesentlich dazu beigetragen, dass der Terminus bis heute in der Celan–Philologie große Verbreitung gefunden hat. Die Bedeutungsvielfalt, die ihm zugrundeliegt, spiegelt die Herausforderungen wider, vor die sein Werk die Interpreten stellt. Celans Gedichte widersetzen sich mit Absicht jeder einseitigen literaturhistorischen und –theoretischen Zuordnung, eine Tatsache, die stets für neue Irritationen sorgte und sorgt. Deshalb überrascht es nicht, dass sich Versuche, Celans Gedichte zur Grundlage einer „Poetik des hermetischen Gedichts“ oder einer „Theorie hermetischer Lyrik“ heranzuziehen, neben Arbeiten finden, die – darin Celan wortwörtlich nehmend – den Begriff entschieden ablehnen. Zunächst muss aber der Begriff selbst geklärt werden.
Der Begriff Hermetik selbst speist sich aus unterschiedlichen Quellen und hat im Laufe seiner Geschichte zahlreiche Umdeutungen erfahren. Grundsätzlich ist zu Unterscheiden zwischen dem Stichwort des Corpus Hermeticum und dem Hermetismus, als der literarischen Hermetik im engeren Sinne.
Das Wort „hermetisch“ hat seinen Ursprung in der Sprache der Alchemisten, als deren geistiger Vater der sagenhafte ägyptische Weise Hermes Trismegistos („dreimal größter Herrscher“) galt, der identisch mit dem ägyptischen Gott Thot ist; er soll die Kunst erfunden haben, eine Glasröhre mit einem geheimnisvollen Siegel luftdicht (hermetice) zu verschließen. Ihm zu Ehren wurden das im 3. Jahrhundert n. Chr. in Ägypten entstandene religiös–philosophische und okkultistische Schrifttum im sogenannten Corpus Hermeticum vereinigt, das seit dem 15. Jahrhundert in lateinischer Übersetzung großen Einfluß auf die okkultistische Seite der europäischen Geistesgeschichte gewann, die bis in die Neuzeit reicht (z.B. bei Paracelsus).
Vom Corpus Hermeticum und der von ihm ausgehenden okkultistischen Tradition muß der literaturwissenschaftliche Terminus Hermetismus im engeren Sinne unterschieden werden. Er ist eine Antwort auf bestimmte Tendenzen moderner Lyrik wie sie sich bei italienischen Lyrikern im ersten Drittel dieses Jahrhunderts zeigten. Der Begriff wurde von dem italienischen Kritiker Francesco Flora in verschiedenen Essays, die 1936 unter dem Namen La poesia ermetica veröffentlicht wurden adaptiert und in kritischer und polemischer Absicht auf die Dunkelheit und Esoterik einiger Werke der zeitgenössischen italienischen Literatur angewendet, insbesondere auf Ungarettis Sentimento del tempo (Das Gefühl der Zeit, 1933). Da aber schon nach kurzer Zeit der Begriff eine „hohe erklärende und analytische Qualität“ offenbarte, fand alsbald eine Bedeutungsaufwertung statt: Hermetik geriet zur „positiven Leitvorstellung“ für alle italienischen Autoren, die sich den Einflüssen der modernen Lyrik geöffnet hatten. Von hier aus nahm die Karriere des Begriffs als Beschreibungskriterium moderner Poesie ihren Ausgang.
Für die allgemeine Verbreitung und das Verständnis des Begriffs in Deutschland war Hugo Friedrichs epochale, aber auch umstrittene Untersuchung zur Struktur der modernen Lyrik (1956) wegweisend . In ihr erscheint das hermetische als das moderne Gedicht schlechthin. Für den Romanisten Friedrich ist moderne Lyrik „entromantisierte Romantik“ , die sich als Spiegel einer durchweg negativ gesehenen Wirklichkeit nur mit negativen Kategorien beschreiben läßt: Dazu gehören neben den Stichworten Entpersönlichung, Ästhetik des Häßlichen, ruinöses Christentum, leere Idealität, Zerlegen und Deformieren, Desorientierung, Okkultismus und Magie auch die Aspekte Dunkelheit, Schweigen und Hermetik. Das hermetische Gedicht nötige die Sprache zu der paradoxen Aufgabe, „einen Sinn gleichzeitig auszusagen wie zu verbergen. Dunkelheit sei zum vorherrschenden Prinzip geworden“. Moderne Lyrik – in der Nachfolge Rimbauds und Mallarmés – trifft in diesem Sinne die Grundentscheidung, sich gegen die äußere, empirische Welt abzuschirmen und sich in der Irrealität, die das Dichten nötigt, dunkel zu sein und sich allein der Vollendung ihres Dichtens zu widmen. Friedrich versteht im engeren Sinne unter der mit Hermetismus bezeichneten Poesie die italienische Form der poésie pure. Insofer diese Dichtersprache an der Musik orientiert ist, liege der Gehalt des Gedichts nicht in seinem „Inhalt“, sondern in seiner Bewegungslineatur. Es erhebe den Anspruch auf Absolutheit und strebe danach, das vorgefundene Material unter Ausschluß der Wirklichkeit in reine Selbstreferentialität zu überführen. Die Dunkelheit, die der Widerschein der Form des Gedichts ist, entstammt laut Friedrich der Nacht, die das Gedicht erforscht: „der Dunkelheit der Seele und des Mysteriums, worin das menschliche Wesen eingetaucht ist“ (Saint–John Perse) – also nicht der negativ konnotierten geschichtlichen Zeit. Friedrich ist überzeugt:
„Moderne Lyrik macht den geschichtlichen Raum so heimatlos wie den dinglichen.“
An dieser Ausschließlichkeit wurde vehement Kritik geübt. Friedrich neige dazu, „seine Betrachtung der modernen Lyrik auf eine einzige Entwicklungslinie zu beschränken – diejenige, die auf „reine“, „absolute“ oder hermetische Lyrik hinausläuft“. Tatsächlich schließt Die Struktur der modernen Lyrik politische, „enagierte“ und spirituelle Autoren der Moderne wie Brecht und Neruda aus ihrer Betrachtung moderner Lyrik aus. Friedrich ignoriert, dass die moralischen Anliegen nicht–hermetischer Dichter – besonders im angelsächsischen Raum – immer wieder zu Abweichung zu der skizzierten Entwicklungslinie geführt haben. Allerdings darf darüber nicht vergessen werden, dass Friedrich dem Begriff des Hermetismus nicht uneingeschränkt positiv gegenübersteht. Obwohl er für ihn ein brauchbares Werkzeug darstellt, um die Struktureinheit moderner Lyrik zu beschreiben, hat er für ihn nicht den Beiklang des „verworren Okkulten“ verloren, den er schon für Flora besaß. Friedrich warnt sogar vor einem falsch verstandenen hermetischen Dichten:
Hermetisches Dichten ruft bei manchen Lyrikern den Eindruck hervor, dass ihr Werk im „Zuschlagen einer Türe“ endet, wie G. Picon einmal bemerkte. Aber dort, wo es bloß modisches Gebaren ist, gedeiht eine Charlatanerie, die daherreden kann, was sie will, – es wird ja doch bewundert. […] Die Folge eines modisch gewordenen Hermetismus ist die Ratlosigkeit der Kritik.
Friedrichs Verwendung des Begriffs hat dazu beigetragen, dass die Rede von Celans hermetischem Gedicht umstritten blieb; vielleicht hat sie sogar Celans eigene Abwehr mitbeeinflusst. Dabei hat Celan nie geleugnet, dass sein Gedicht an die Tradition moderner Lyrik seit Mallarmé anknüpft. Ein entsprechender Hinweis findet sich zum Beispiel in der Meridian–Rede:
Gewiß, das Gedicht – das Gedicht heute – zeigt, und das hat, glaube ich, denn doch nur mittelbar mit den – nicht zu unterschätzenden – Schwierigkeiten der Wortwahl, dem rapideren Gefälle der Syntax oder dem wacheren Sinn für die Ellipse zu tun, – das Gedicht zeigt, das ist unverkennbar, eine starke Neigung zum Verstummen.
Celan bekennt sich in diesem Zitat zu einigen entscheidenden formalen Charakteristika hermetischer Gedichte, nämlich der ungewöhnlichen Wortwahl, dem Aufbrechen der Satzstruktur und der Technik des Aussparens. Aber sein Wiederaufrollen der modernen Lyrik bemüht sich um einen neuen Zugang. Denn obwohl seine Gedichte „durch ihre identische Grundstruktur mit denen der hermetischen Tradition verbunden sind“, bricht Celan mit der Vorstellung, dass sich hermetisches Dichten aristokratisch von der Wirklichkeit abwendet, um in den Äther reiner Poesie aufzusteigen. Celan hat unter den konkreten geschichtlichen Bedingungen die historische Erfahrung, in der die moderne Lyrik ihren Ursprung hat, aktualisiert. Seine Gedichte schirmen sich nicht mehr gegen die Wirklichkeit ab. Zu Recht bestand er deshalb darauf, dass jedes seiner Worte mit unmittelbarem Wirklichkeitsbezug geschrieben ist. Bei Celan hat sich somit, wie Adorno messerscharf erkannt hat, der Erfahrungsgehalt des Hermetischen umgekehrt und ist von einer Weltflucht zu einer Weltsuche geworden.
Daher muß die Frage, ob Celans Gedichte hermetisch sind, mit Vorsicht beantwortet werden. Viele Aspekte, mit denen Friedrich das hermetische Gedicht kennzeichnet, treffen auf Celan nicht zu. Das gleiche läßt sich über die an Friedrich orientierte Definition Gero von Wilperts sagen, der unter Hermetismus eine Strömung der Literatur (besonders der Lyrik zwischen 1920 und 1950) versteht,
die Klang- und Gefühlswerte des Wortes vor die Sinnbedeutung stellt und im Anschluß an Parnassiens, Dekadente und Symbolisten des 19. Jahrhunderts (Rimbaud, Mallarmé, Valéry) nach vieldeutiger, magischer Dunkelheit und Geheimnischarakter der Lyrik strebt […] Im weiteren Sinn auch außeritalienische, nach esoterischer Dunkelheit strebende „hermetische“ Lyrik (Paul Celan und andere).
Die Dichotomie „Klang– und Gefühlswerte“ versus „Sinnbedeutung“ suggeriert, dass sich hermetische Lyrik gegenüber dem Sinn in jedem Fall asketisch verhält. Das wird dem zutiefst ethischen Anliegen Celans aber nicht gerecht. Denn Celan wollte durchaus verstanden werden. Die Gegenüberstellung von „suggestivem, nicht verstehbaren Dichten“, für das die Sprache nicht mehr Mitteilung, sondern nur noch Äußerung ihrer selbst ist, und an Sinnbedeutung orientierter, „engagierter“ Lyrik trifft auf Celan nicht zu, weil seine Gedichte beides miteinander verbinden und somit Friedrichs ontologisierende Lyrikdeutung widersprechen, die in zeitgeschichtlicher Perspektive als eine Projektion erscheint, die dem „allgemeinen Trend zur Entpolitisierung der Öffentlichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg entgegengekommen [ist]“. Celans Gedichte versuchen, aus dem Leben ins Leben hineinzusprechen. Deshalb muß die Definition von Wilpert und Friedrich in entscheidenden Punkten revidiert und erweitert werden, wenn man den Begriff der Hermetik für Celan retten will.
Am historischen Ursprung literarischer Hermetik steht die Reflexion über die problematisch werdende Mitteilung, die die Selbstreferentialität des Kunstwerks als entscheidende Kategorie der Moderne hervorbringt. Schon Novalis, Schlegel und Kierkegaard stellen Überlegungen zu einem „Programm der Hermetik“ an. Je stärker in der nachklassischen Moderne die Mitteilungsproblematik erfahren wird, je mehr reflektiert die Sprache auf ihre eigenen Bedingungen. Nicht was vermittelt wird, sondern wie etwas vermittelt wird, tritt in der modernen Kunst in den Vordergrund – wenn man unter diesem Phänomen, wie hier, nicht die Gegenwartslyrik überhaupt versteht, sondern eine Sonderform, die „ihr Profil durch Desorientierung des Verstehens und hohe Bewußtheit im Hinblick auf die dazu erforderlichen Techniken“ gewinnt.
Im 19. Jahrhundert sahen viele Künstler in der rapide wachsenden Massenkommunikation eine der Hauptgefahren für das Funktionieren authentischer Selbstmitteilung; angesichts dieser Entwicklung schrieb Mallarmé seine Pamphlete gegen die Textsorte Zeitung und entwickelte Valéry den Gedanken seiner poèsie pure. Gegen die plane Geschwätzigkeit setzten sie das freie Spiel ihrer „diktatorischen Phantasie“. Den seit Jahrhunderten in der Kunst gültigen Geboten der Normativität und des Mimesis–Gebots erteilten sie zugunsten uneingeschränkter Subjektivität und der Macht der Erinnerung eine Absage:
Das Äußere hat seine dichterische Funktion allein in der Spiegelung eines Inneren. Die antimimetische Tendenz der Lyrik […] erreichte bei Mallarmé einen Höhepunkt. Er ist bestrebt, alle Assoziationen einer empirischen Wirklichkeit möglichst zu tilgen mit dem Ziel, eine reine „Idee“ hinter den Erscheinungen aufzuzeigen.
Mit den Stichworten Mitteilungsproblematik, Selbstreferentialität, Subjektivität, Absage an Normativität und an das Mimesis–Gebot sind einige der Grundpfeiler hermetischer Lyrik angesprochen. Das Besondere bei Celan ist, dass seine Gedichte nicht wie die Mallarmés „hermetisch“ abgedichtet sind und danach streben „alle Assoziationen einer empirischen Möglichkeit möglichst zu tilgen“, sondern sie halten vielmehr auf eine ansprechbare Wirklichkeit zu, die eine Restitution der außer Kraft gesetzten Rechte des Individuums erlaubt.
Celan knüpft an die künstlerischen Errungenschaften Mallarmés an, aber anders als für Mallarmé fallen für ihn Sprach– und Wirklichkeitssuche in eins. Gedichte sind für ihn „Umwege von dir zu mir“ und zugleich
Wege, auf denen die Sprache stimmhaft wird, es sind Begegnungen, Wege einer Stimme zu einem wahrnehmenden Du, kreatürliche Wege, Daseinsentwürfe vielleicht, ein Sichvorausschicken zu sich selbst, auf der Suche nach sich selbst … Eine Art Heimkehr.
Für Celan ist Dichtung etwas zutiefst Menschliches. Sie ist „aktualisierte Sprache“ unter dem Zeichen radikaler Individuation, sie ist „die gestaltgewordene Sprache eines Einzelnen“, der „nicht vergißt, dass er unter dem Neigungswinkel seiner Kreatürlichkeit spricht“. Obwohl das Gedicht „nur in seiner eigenen, allereigensten Sache“ spricht, hofft es „gerade auf diese Weise in eines Anderen Sache zu sprechen – wer weiß, vielleicht in eines ganz Anderen Sache“.
Somit wenden sich Celans Gedichte nicht aristokratisch von der Wirklichkeit ab. Vielmehr bleiben sie „der Daten eingedenk“ und halten auf die Wirklichkeit zu. Celan spricht in diesem Zusammenhang von seinem „Seelenrealismus“ und meint damit, in Anlehnung an die Grafiken seiner Frau, der Grafikerin Gisèle de l’Estrange, eine Arbeitstechnik, die „absichtlich manche Kontur [verschatte], um der Wahrheit der Nuance willen, getreu meinem Seelenrealismus“. Der Facettenreichtum der Wirklichkeit bedingt ein Gedicht, dass sich durch Mehrdeutigkeit, Widersprüchlichkeit, perspektivische Bedingtheit auszeichnet. Es bildet die Wirklichkeit nicht mehr ab – wie Mallarmé hat auch Celan mit dem Mimesis–Prinzip gebrochen –, sondern überführt sie schrittweise in sein eigenes Sprechen, um auf diese Weise das Wesen der Wirklichkeit zur Erscheinung zu bringen. Celans Gedichte sind nicht „verschlüsselt“, sondern sie verwandeln die Wirklichkeit. Darum darf das Gedicht nicht auf die vorfindliche Wirklichkeit zurückgeführt werden. Celan hat diese Aufgabe 1958 in einem Brief an Schüler einer zehnten Klasse in Bremen formuliert, die ihn um einen Kommentar zu ihren Interpretationen gebeten hatten:
Gedichte sind [..] ein Versuch, sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen, ein Versuch, Wirklichkeit zu gewinnen, Wirklichkeit sichtbar zu machen. Wirklichkeit ist für das Gedicht also keineswegs etwas Feststehendes, Vorgegebenes […] Im Gedicht ereignet sich Wirkliches, trägt Wirklichkeit sich zu. Davon ergibt sich für den Lesenden zunächst die Bedingung, das im Gedicht zur Sprache Kommende nicht auf etwas zurückzuführen, das außerhalb des Gedichts steht. Das Gedicht selbst ist sich, sofern es ein wirkliches Gedicht ist, der Fragwürdigkeit seines Beginnens wohl bewußt; an ein Gedicht mit unverrückbaren Vorstellungen heranzugehen, bedeutet also zumindest eine Vorwegnahme dessen, was im Gedicht selbst Gegenstand einer – in keiner Weise süffisanten – Suche ist.
Weil die Wirklichkeit für das Gedicht nichts Vorgegebenes und Feststehendes ist, macht das Gedicht keine eindeutigen Aussagen – es „scheide[t] das Nein nicht vom Ja“, wie man in Erinnerung an „SPRICH AUCH DU“ sagen kann. Diese Liebe zur Nuance verdunkelt zunächst die realen Zusammenhänge, öffnet aber auch einen Raum, in dem ein neues und vertieftes Verständnis von Wirklichkeit entstehen kann.
Celans Hermetik sucht jenseits der abgenutzten Pfade dessen, „was die pseudowissenschaftliche Ideologie Kommunikation nennt“ (Adorno), Formen authentischer Verständigung. Schon in Wien experimentierte Celan unter dem Einfluß des Surrealismus mit den „seelischen Medien der Mitteilung“ (vgl. Der Traum vom Schweigen. Paul Celans frühe Arbeit (1948) über den surrealistischen Maler Edgar Jené). Aber was er mitteilen wollte, entzog sich planer Mitteilbarkeit. Es ging nicht mehr nur um das gelungene Kunstwerk, sondern auch um die Frage des Leidens und der nackten Existenz. Celans Mitteilungsproblematik ist von Anfang an mit der Pathologie des Überlebenden–Syndroms verbunden. Celan litt wie die meisten Überlebenden unter den Spätfolgen der Verfolgung. Ihn quälten Schuldgefühle, weil er im Gegensatz zu seinen Eltern und so vielen anderen früheren Weggenossen überlebt hatte, auch zeigte er die Kennzeichen eines survivor syndrome, das sich u.a. in Entwurzelungsdepressionen, Umstellungsdepressionen und Sprachlosigkeit ausdrückt.
Man muß sich klar machen, dass es für Celan und für die anderen Überlebenden keinen intakt gebliebenen Binnenraum der Sprache gab, in den sie sich zurückziehen konnten. Es sei hier an den von Celan übersetzten Kommentar Jean Cayrols zum Film Nacht und Nebel von Alain Resnais zu erinnern:
„Ein erster Blick auf das Lager: / Ein anderer Planet“.
So außerordentlich war das Erlebte, dass es sich der Sprache entzog. Letztlich blieben die Erfahrungen den meisten Menschen unverständlich, wie Celan in einem ungewöhnlich offenherzigen Brief an Erwin Leiser klagt:
Sie wissen ja wohl, wie ich, wie unverständlich Erfahrungen wie die unseren noch denjenigen bleiben, die bereit sind, sich mit ihnen auseinanderzusetzen: sie versuchen, oft gegen den eigenen Willen, diesen Erfahrungen gerecht zu werden, indem sie sie unter dem Aspekt des Exotischen, Peripheren, mehr oder minder Abwegigen und Abseitigen betrachten. Nicht immer, gewiß, es gibt Ausnahmen, aber es sind eben – Ausnahmen.
Not und Notwendigkeit der Mitteilung bilden daher ein existentielles Thema von Celans Lyrik. Sie tragen zum Eindruck ihrer Dunkelheit, des Verstummens und der Hermetik bei. Diese Attribute sind aber nicht gleichbedeutend mit Unverständlichkeit. Wer moderner Lyrik und Celans Gedichten den Vorwurf macht, unverständlich zu sein, verkennt ihre paradoxe Wirkungsweise. Zwar entzieht sich die Hermetik dem unmittelbaren verstehenden Zugriff, aber sie will immer noch etwas mitteilen, wie Niklas Luhmann und Peter Fuchs herausgestellt haben:
Sprache wird, wie es scheint, in ihr funktionales Gegenteil verkehrt, soll verbergen, mitunter verschweigen, was sie sagt, und sagen, was sie verschweigt.
Verständlichkeit und Unverständlichkeit sind die zwei Seiten ein und derselben Medaille. Dies hat die frühe Rezeption von Celans Gedichten verkannt, für die der Begriff Hermetik zumeist ein Stigma war. Dazu hat die Tatsache, dass die moderne Lyrik – zum Beispiel von Friedrich – durchweg mit negativen Kriterien charakterisiert wurde, entscheidend beigetragen. In Licht dieser Benennung erscheint nämlich das hermetische Gedicht gegenüber der vormodernen Lyrik als defizient, und wird den Ansprüchen einer Sprachverwendung, die an eingängiger Kommunikabilität orientiert ist, nicht mehr gerecht. „Moderne Lyrik erscheint typisch bestimmt durch das, was sie nicht ist“ – und das bringt die Gefahr mit sich, dass eine Rückkehr zu einer leicht verständlichen Sprache als möglich erscheint.
Tatsächlich erlebte die Hermetik in Deutschland nach dem Krieg – mit Dichtern wie Aichinger, Arendt, Celan, Bachmann, Bobrowski, Eich, Huchel – nur eine kurze Phase des Wiederaufblühens, so dass ein Jahr nach Celans Tod konstatiert wurde, „dass diese Art zu dichten heute an einem Endpunkt angelangt ist“. Inzwischen war nämlich ein Paradigmenwechsel zur Entfaltung gelangt, der in den sechziger Jahren eingesetzt hatte: Er verkehrte die Konzeption der hermetischen Dichtung in ihr Gegenteil und wendete sich statt dessen dem Ideal eines auf Klarheit, Verständlichkeit, plane Kommunizierbarkeit angelegten Gedichts zu. Darüber geriet die Frage nach der spezifischen Legitimation und Konstitution von dunkler, hermetischer Dichtung ins Hintertreffen.
Vom Standpunkt des hermetischen Gedichts ist nicht seine eigene Dunkelheit das Problem, sondern die Künstlichkeit und Unaufrichtigkeit der gebräuchlichen Ausdrucksmittel. Es entzieht sich deshalb der Verfügbarkeit, die jedes Kunstwerk ereilt, das sich „in freudiger Übereinstimmung mit dem jeweiligen Kulturkonsum, genauso polyglott wie polychrom zu etablieren weiß“. So wurde Celans Dichtung aus „Schutz vor der Welt“ hermetisch, damit es ihr nicht so ginge wie dem Werk Else Lasker–Schülers und Nelly Sachs, „wo das Gedicht verletzbar bleibt und offen gegen Larmoyanz und Spott des Lesers“. In seiner Tiefe jedoch hält das Gedicht das Angebot auf Kommunikation wach.
Der inneren Struktur von Celans hermetischen Gedichten entspricht die Erfahrung des Lesers, „dem Wortlaut nach (fast) Alles und zugleich beinah Nichts zu verstehen“ Weil jede Sprache ein konventionalisiertes Medium ist und somit die Idee einer Privatsprache ausschließt, bleibt aber auch Celans Suche nach neuen sprachlichen Möglichkeiten an die Überlieferung gebunden. Denn Celan lag es nach eigenem Bekunden fern, eine „neue“ Sprache im Sinne einer poetischen Sondersprache zu entwerfen:
„Eine Sprache, die niemand spricht, ist anti–poetisch. Auch was ein elektronischer Golem aufs Band orakelt, ist anti–poetisch. Ich verwerfe jedes Orakel.“
Vielmehr wollte Celan die vorhandenen sprachlichen Möglichkeiten erweitern, vertiefen, erneuern und revidieren. Somit ist die Sprache gleichzeitig Initiator, Medium und Partizipiant eines im höchsten Maße dynamischen und paradoxen Prozesses. Aus sich selbst heraus soll die Sprache, wie es in Celans Text über Edgar Jené heißt, den „Funken des Wunderbaren“ gebären, indem sie „traumhaft verschleiert und traumhaft entschleiert“ „Fremdes Fremdesten“ vermählt. Das Neue entzieht sich also dem verstandesbetonten Zugriff und steigt aus der „anderen, tieferen Seite des Seins“, dem „Kristall der Innenwelt“ hervor. Das Gedicht ist bei Celan der Ort, an dem im Medium einer Sprache, die nicht mehr abbildet, sondern entwirft, das Unaussprechliche zur Sprache kommen soll.
Celans Gedichte haben „das, was geschah“ in ihre Struktur mitaufgenommen. Sie erwarten vom Leser, dass er das „Wundgelesene“ über–setzt. Dies ist angesichts der Inkommensurabilität der Ereignisse ein aufreibender und langwieriger Vorgang. Die Hermetik und Dunkelheit erscheinen dabei als die Schatten des Unaussprechlichen, das in den Tiefen des Celanschen Textes sedimentiert ist. In Fortführung der antimimetischen Tendenz moderner Lyrik seit Mallarmé bilden Celans Gedichte das Geschehen nicht einfach ab, sondern überführen es schrittweise in die Wirklichkeit des Gedichts. So schaffen sie die Bedingungen, unter denen nach dem Geschehen gefragt werden kann. Die Gedichte lassen sich mit unterirdischen Textlandschaften, mit verschwiegenen Kenotaphen und leeren Grabmalen zur Erinnerung an nicht in der Heimat Begrabene vergleichen. Sie initiieren als Spurensicherung die lange und schwierige (semantische) Spurensuche nach einem verborgenen Sinn.
[…]
Eine Neufassung des Aufsatzes wartet zur Zeit auf Veröffentlichung.
Seit ein paar Wochen beschäftige ich mich mit der sogenannten „Hermetischen Dichtung“.
Fokus: Paul Celan.
Das hier ist das Beste/Aktuellste, was ich dazu bisher gelesen habe.
Danke.
Rainer Kroepsch
Danke euch von mir!
Phillip Kanzler