Oliver Wieters
Lehrauftrag: Elias Canettis “Aufzeichnungen” und die aphoristische Tradition
Universität Hamburg. Institut für Germanistik II.
Neuere deutsche Literatur und Medienkultur WS 2003/04
07.311 2st. Do 16-18 Phil 708 Beginn: 23.10.
Elias Canetti (1905-1994) hat seit der Arbeit an seinem monumentalen Lebenswerk „Masse und Macht“ (1960) Aufzeichnungen niedergeschrieben – zunächst als ein persönliches „Ventil“, um sich von dem Druck des allesbeherrschenden Themas zu befreien, später als eine tägliche, unentbehrliche Übung mit eigenem Daseinsrecht. Für Harald Fricke gibt es „für die Kühnheit seiner ins Grundsätzliche und grundsätzlich Neue zielenden Überlegungen in der Aphoristik des 20. Jahrhunderts und wohl seit Lichtenberg kein zweites Beispiel“. Canetti selbst hingegen stand dem Etikett des Aphoristikers genau so ablehnend gegenüber wie vor ihm schon Lichtenberg, der von ihm bewunderte Altmeister des Aphorismus: „Aphorismen – ein Name wie von Prokrustes“, spottete Canetti. Tatsächlich finden sich in seinen „Aufzeichnungen“, die Gegenstand des Seminars sind, auch umfangreiche Essays, Lesefrüchte, Porträtskizzen und Reisenotizen, die gattungsspezifische Grenzen in Frage stellen. Canetti, dessen Werk mitunter schwer zu fassen ist, misstraute allen Begriffssystemen, und schätzte an den Aufzeichnungen, dass „kein Ende ihrer Fassungskraft“ sei. Seine Abneigung gegen Systeme entspringt einem Gefühl des Verlustes: „Immer geht etwas verloren, wenn ein System sich schließt“. Auch deshalb verehrte er seinen großen „Mitdenker“ Georg Christoph Lichtenberg, dessen „Neugier durch nichts gebunden ist, sie springt von Überall her auf alles zu“. „Gegendenker“ wie Aristoteles dagegen reizten ihn zu scharfem Widerspruch: „Aristoteles ist ein Allesfresser, er beweist dem Menschen, dass nichts ungenießbar ist, sobald man es nur einzuordnen versteht.“
Im Seminar sollen Canettis Aufzeichnungen in formaler und inhaltlicher Hinsicht vor dem Hintergrund der aphoristischen Tradition betrachtet werden. Angelpunkt ist Canettis umfangreichster Band mit Aufzeichnungen, „Die Provinz des Menschen“ (1973), die unter verschiedenen Gesichtspunkten formal und inhaltlich durchleuchtet werden sollen: Dies betrifft insbesondere Canettis Verhältnis zu Mit-, Vor- und Gegendenkern wie Lichtenberg auf der einen, Aristoteles auf der anderen Seite, seine „Feindschaft zum Tod“, seine Beschäftigung mit dem Judentum und der Sprache.
Voraussetzung für die Teilnahme ist ein Einzel- oder Gruppenreferat, für die Vergabe des Seminarscheins regelmäßiges Erscheinen, ein Referat und eine Seminararbeit. Bitte geben Sie bei der Anmeldung Ihre E-Mail-Adresse an (sofern vorhanden).
Literaturempfehlungen:
Zur Vorbereitung empfehle ich die Lektüre von Elias Canettis Aufzeichnungen „Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen 1942-1972“, München 1973. Außerdem zu empfehlen: Dagmar Barnouw, Elias Canetti zur Einführung, Hamburg 1996, und Harald Fricke, Aphorismus, Stuttgart 1984. Hilfreich – wenn auch nicht zwingend notwendig – ist die Kenntnis von Elias Canettis dreibändiger Autobiographie („Die Gerettete Zunge. Die Geschichte einer Jugend“, „Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921- 1931“, „Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931-1937“) und seines Romans „Die Blendung“.