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4.4. CDU, Zentrum und katholische Kirche
Vielleicht der größte Vorteil, von dem die CDU gegenüber dem Zentrum profitierte, war die Unterstützung der katholischen Kirche[162]. Für das Zentrum, das sich trotz Differenzen mit dem Klerus stets als Interessenvertretung der katholischen Kirche verstanden hatte, war jedoch das Vertrauen der Kirche für seine Selbstlegitimation von zentraler Bedeutung. Als deutlich wurde, daß mit einem kirchlichen Rückhalt auch in Zukunft kaum gerechnet werden konnte, geriet das Zentrum in eine tiefe Identitätskrise.
Wahrscheinlich fiel die Entscheidung der Bischöfe gegen das Zentrum bereits auf der Bischofskonferenz von Fulda (21.-27. August 1945). Die Bischöfe glaubten, daß das Zentrum im Kampf gegen Linkstendenzen und Säkularisierung gegenüber der Union der schwächere Verbündete sein würde. Sie orientierten sich deshalb mit der Mehrheit der bekenntnistreuen Christen auf die interkonfessionelle Form katholisch-kulturpolitischer Interessenvertretung um. Säkularisierung wurde dabei von den Bischöfen weniger als ein soziologisch-industrielles Problem, sondern als ein philosophisch-geistesgeschichtliches, wie Peter Hüttenberger kommentiert[163].
Die Favorisierung der CDU durch die katholische Kirche bedeutete auch eine Abkehr vom politischen Katholizismus traditioneller Prägung bei gleichzeitiger Hinwendung zur „Christlichen Demokratie“ (Hans Maier). Zwar wurden wesentliche Forderungen in kirchlichen, Ehe- und Erziehungsfragen übernommen und das konkrete Freiheitsprogramm, das auf der Unabhängigkeit von Staat und Kirche basiert, beibehalten. Der wesentliche Unterschied lag in der Akzeptanz der demokratischen Gesellschaftsform, denn während die christliche Demokratie an die Demokratie als ein Faktum von providentieller Bedeutung glaubt, sieht der politische Katholizismus in ihr vor allem ein Experimentierfeld praktischer Politik.[164] Das Arrangement der katholischen Kirche mit der entstehenden bundesrepublikanischen Gesellschaft war somit auch ein Kennzeichen für den Paradigmenwechsel vom politischen Katholizismus zur christlichen Demokratie. Der Kirche sah in der Demokratie nicht mehr – wie noch bis zum Ersten Weltkrieg, teils auch noch später – nur eine Gefährdung ihres Einflusses, sondern auch eine Garant für ihre Freiheit in einer sich zunehmend entchristlichenden Welt. Dahinter stand ein allgemeines Prinzip, das auch für vergleichbare Entwicklungen in anderen Ländern gilt, wie Hans Maier dargelegt hat:
Christliche Demokratie entsteht dort, wo sich die Absicht des politischen und sozialen Katholizismus mit einer geschichtsphilosophischen Konzeption trifft, die in der Demokratie nicht nur die providentielle Staats- und Gesellschaftsform des christlichen Zeitalters, sondern auch die sicherste Bürgschaft für die Freiheiten der Kirche sieht.[165]
Angesichts der theologisch fundierten Haltung der Kirche zur Politik und zur Demokratie verwundert es nicht, daß die christlich-demokratischen Parteien, die ihre Politik letztlich naturrechtlich begründen, keine klare Position im Parteienspektrum von rechts nach links haben. Das zeigt auch die Diskussion, die es innerhalb und außerhalb der CDU über die „Mitte“ gegeben hat. Als „Weltanschauungspartei“ ist auch die Union eine „Gemeinsamkeit von Menschen, die aus einer gleichen – vorpolitischen – Überzeugung heraus den Weg in die Politik eingeschlagen haben“[166]. Freilich läßt sich in der Tendenz feststellen, daß in der Union eine Verdünnung christlicher Vorstellungen weit vorangetrieben wurde; vielen erscheint sie daher als eine „Weltanschauungspartei ohne Weltanschauung“.
Während sich die Zentrumsführung stets um die Unterstützung der Kirche bemüht hatte, versuchten die Unionsgründer den kirchlich-katholischen Einfluß auf die Politik der Union herauszuhalten. Die Distanz zu den kirchlichen Forderungen war, wie Ute Schmidt meint, eine Überlebensfrage für die Union als bürgerlich-interkonfessionelle Sammlungspartei. Gleichwohl hatten die Unionsgründer gegen offene klerikale Unterstützung für die Partei aus politisch-taktischen Gründen nichts einzuwenden[167]. Das Zentrum hingegen hatte Schwierigkeiten, sich im Spannungsfeld von katholischer Kirche und CDU zu konsolidieren. Die Partei beharrte auf ihrer Eigenständigkeit selbst dann noch, als ihr die Unterstützung der katholischen Kirche entzogen worden war. Eine katholische Politik gegen das Votum der Bischöfe ließ sich jedoch nicht realisieren, schon deshalb, weil für viele Zentrumsleute das Zentrum per definitionem der politische Arm der katholischen Kirche war. Die Umorientierung des Klerus auf die Unionsidee wurde hingegen immer offener zum Ausdruck gebracht. So votierte der Bischof von Hildesheim am 6. Februar 1946 – zwei Tage vor der Lizensierung des örtlichen Zentrums – offen für die CDU, in der das Zentrum aufgehen sollte. Es gehe darum, den bischöflichen, das heißt den kirchlich-katholischen Einfluß auf die Hildesheimer CDU zu wahren und die Einigkeit der Katholiken zu erhalten. Im übrigen hätten sich alle Bischöfe gegen die Wiedergründung des Zentrums entschieden. Der Bischof gab zu verstehen, daß er die Union nicht aus grundsätzlichen Erwägungen, sondern aus augenblicklichen Zweckmäßigkeitgründen vorziehe; er rechne mit ihrem baldigen Zerfall[168]. Letztere Aussage hatte wohl eher taktische Gründe, um die Zentrumsbefürworter nicht zu verschrecken. Allerdings war Johannes Brockmann im Februar 1946 durchaus noch der Meinung, daß die Kirchenvertreter ihre Haltung gegenüber dem Zentrum ändern könnten; allerdings müsse das Zentrum seiner Meinung nach, wenn nötig auch ohne Unterstützung der Kirche, als Partei auftreten[169]. Zugleich protestierte er in einem Brief an die deutsche Bischofskonferenz gegen das offene Eintreten einiger Bischöfe für die CDU. Auch von hier bekam Brockmann die Antwort, daß das Engagement mancher Kirchenvertreter rein taktische Gründe hätte. Brockmann wurde aufgefordert, das Zentrum fallenzulassen und eine Verschmelzung mit der CDU in die Wege zu leiten, um vereint gegen den gemeinsamen „Feind“, der links stehe, vorzugehen. Begründet wurde das Votum der Kirche für die CDU von Kardinal Frings – der in diesem Jahr Mitglieder der Union wurde – damit, daß Brockmanns Partei „den Nachteil [habe], zu spät auf dem Plan erschienen zu sein, als bereits an vielen Orten die CDU sich konstituiert hatte.“[170]
Obwohl das Zentrum von der Kirche keine Unterstützung zu erwarten hatte, setzte es sich weiterhin konsequent für spezifisch katholische Interessen ein: für die katholische Bekenntnisschule, für die konfessionelle Lehrerbildung, für die katholische Auffassung des „Elternrechts“ und für die Verwirklichung einer christlichen Sozialordnung im Sinne der katholischen Soziallehre. Vor diesem Hintergrund lehnte es 1949 das Grundgesetz ab, weil darin zentrale katholische Forderungen wie das Elternrecht nicht verankert waren. Diese Politik brachte ihr bis zur Bundestagswahl sowie in den nordrhein-westfälischen und teilweise den niedersächsischen Kommunalwahlen bis 1952 noch beachtliche Stimmerfolge[171] ein und blieb in einzelnen Gebieten bis 1953 sogar noch eine starke Konkurrenz für die CDU[172]. Die Kirche versuchte daher sogar zu Beginn der fünfziger Jahre das Zentrum als Druckmittel gegen die CDU zu nutzen, um den Einfluß liberalistischer Tendenzen zurückzudrängen. Aufgrund dieses Drucks kam es sogar zu vereinzelten Wahlabsprachen, so zur Bundestagswahl 1953, wo Brockmann von der CDU in Oberhausen ein Direktmandat zugesichert wurde, während seine Partei im Gegenzug auf die Nominierung eigener Kandidaten in allen übrigen Wahlkreisen verzichtete. Letztlich war dadurch jedoch der Niedergang der Zentrumspartei nicht aufzuhalten. „Mitgliederschwund, Überalterung und die Tatsache, daß es ihr nicht gelungen war, ihr Wählerreservoir zu halten geschweige denn zu erweitern, zwangen die Zentrumspartei in den fünfziger Jahren nicht nur zu Wahlabkommen mit der CDU, sondern auch zu Bündnissen und Fusionen mit anderen Parteien, um dem drohenden Assimilierungsprozeß an die CDU entgegenzuwirken.“[173]Dem Zentrum, das nach dem Abgang der Spiecker-Anhänger von den Traditionalisten dominiert wurde, gelang es zudem nicht auf die konkrete sozialpolitische Realität nach dem Zweiten Weltkrieg Bezug zu nehmen[174]. Zwar besteht es bis heute weiter, ist aber Landes- und Bundesweit ohne jegliche parteipolitische Bedeutung (Landtagswahlen Nordrhein-Westfalen 1985: 0,0 %; Europawahlen 1984: 0,4 %).
Die Gründe für den Erfolg der Union und den Niedergang des Zentrums sind gewiß nicht nur bei der katholischen Kirche zu suchen. Aber die Kirche im nordrhein-westfälischen Raum bildete doch den Raum, in dem die junge Partei ihre ersten Schritte machte. In vielen Fragen war sie der „spiritus rector, dessen Einfluß bis in die Sprache der Parteiprogramme und in zahllose Parteischriftstücke zu spüren ist“[175].
5. Die Auflösung des katholischen Milieus
Die Gründung der Union wurde durch das Näherrücken der Konfessionen und die reale Erfahrung im Umgang mit Angehörigen des anderen Bekenntnisses begünstigt. Dieser Zusammenhang ist jedoch nicht im Sinne einer kausalen Zuordnung zu verstehen. So hat Klaus Gotto darauf hingewiesen, daß die CDU/CSU-Gründung erfolgt sei, bevor die neuen demographischen Fakten hätten wirksam werden könne. Der entscheidende Grund für die Entstehung einer interkonfessionellen Partei sei in der Erfahrung der gemeinsamen Verfolgung und des gemeinsamen Widerstehens im Dritten Reich zu suchen[176]. Dies ist ein von der Forschung allgemein geteiltes Verständnis. So schreibt Hans Maier, daß „erst die veränderte Lage nach dem Zweiten Weltkrieg und die engere Verbindung der Konfessionen, die im Kampf gegen den Totalitarismus entstanden war, (..) Bedingungen geschaffen [haben], die der Christlichen Demokratie den Vorstoß über die Grenzen der Konfession, den Durchbruch zur Massenpartei erlaubten“[177]. Zudem hatte es bereits zuvor religiös motivierte Annäherungsversuche gegeben. Durch die demographischen Umschichtungen als Folge der Massenzuwanderung der Flüchtlinge und Vertriebenen hat sich das konfessionell-geographische Gefüge Rest-Deutschlands jedoch innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums verändert. Allerdings reichen die Anfänge der Auflösung des konfessionellen Milieus bereits in die Zeit vor 1945 zurück:
Die Abschleifung des großen konfessionellen Gegensatzes im politischen Raum ist vor allem die Folge eines längerfristigen historisch-politischen und sozialstrukturellen Veränderungsprozesses, an dem sich sowohl die katholischen als auch die protestantischen Kirchenvertreter weitgehend reaktiv orientierten. [178]
Die Gründung der Union ist somit auch vor dem Hintergrund dieser lang- und kurzfristigen demographischen Umschichtungen zu sehen. Die konfessionellen Durchmischung betraf sowohl die protestantischen wie die katholischen Milieus. So blieben zum Beispiel in Bayern 1946 von 1424 Gemeinden mit rein katholischer Bevölkerung nur noch 9 übrig, von den 140 rein protestantischen sogar keine einzige. Eine parallele Entwicklung vollzog sich bei den Mischehen: 1947 kamen in München auf 100 katholische Ehen ca. 51 Mischehen. Das Ausmaß dieser erzwungenen „gesellschaftlichen Mobilisierung“[179] (Hans Braun) soll im Folgenden in seinen Grundzügen umrissen werden.
5.1. Gesellschaftliche Mobilisierung nach 1945
Nach der Volkszählungen vom 29. Oktober 1946 lebten 9,593 Millionen Heimatvertriebene in den vier Besatzungszonen, davon stammten 5,64 Millionen Menschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Diese Zahl stieg in den folgenden Jahren noch an, weil die Ausweisungen weiter anhielten und die entlassenen Kriegsgefangenen nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren konnten. So wurden bei der Volkszählung vom 13.September 1950 (Bundesrepublik) bzw. 31.August 1950 (DDR und Ost-Berlin) 6,98 Millionen aus den Gebieten jenseits der Oder und Neiße Vertriebene in der Bundesrepublik, der DDR und Berlin gezählt, davon befanden sich 4,6 Millionen in der Bundesrepublik und West-Berlin. Die Flüchtlinge verteilten sich sehr unterschiedlich auf die verschiedenen Zonen, was eine Folge der Potsdamer Beschlüsse war, auf deren Grundlage die Vertriebenen schematisch und unter Absehung von bestehenden Konfessionsverhältnissen auf die vier Besatzungszonen verteilt wurden. Nach der Volkszählung vom 13.September bzw. 31.August 1950 (Bundesrepublik bzw. DDR und Ost-Berlin) waren 20,8% der Bevölkerung der sowjetischen Zone Flüchtlinge, hingegen nur 16,3% der amerikanischen, 13,9% der britischen und lediglich 1,5% der französischen, letzteres eine Folge des bis 1949 geltenden Zuzugsverbots[180]. Innerhalb der Zonen waren die Unterschiede noch ausgeprägter: Während die Stadtstaaten aufgrund der großen Zerstörungen nur wenige Flüchtlinge aufnehmen konnten – Hamburg 3,9% (1946) bzw. 7,2% (1950), Bremen 5,2% bzw. 8,6% -, befanden sich in den großen Flächenstaaten wie Schleswig-Holstein 32,2% bzw. 33,0%, in Bayern 18,9% bzw. 21,1%, in Mecklenburg gar 42,2% (1946) und in Sachsen 12,3% (1946). Im Gebiet des späteren Nordrhein-Westfalens lebten 1946 – wie bereits zuvor erwähnt – 577.000 Hinzugezogene aus Schlesien, Ostpreußen und der sowjetischen Zone; insgesamt 1.331.959 Menschen, was einem Anteil von 10,1% an der Gesamtbevölkerung entsprach[181]. Der Volkszählung 1950 zufolge, lebten die meisten Flüchtlinge, nämlich 55%, in Gemeinden unter 5000 Einwohnern, ca. 25% in Gemeinden zwischen 1000 und 3000 Einwohnern, und lediglich 19,8% in Gemeinden mit mehr als 50.000 Einwohnern.
Zur konfessionellen Zusammensetzung der Vertriebenen: Nach Hans Braun waren von den bis 1947 nach Restdeutschland eingeströmten Flüchtlingen fast die Hälfte Katholiken, die aus Nordostdeutschland, Schlesien, dem Sudetenland, Südosteuropa, dem Baltikum und Innerpolen stammten. In der amerikanischen Zone befanden sich 2,04 Millionen katholische Flüchtlinge, in der sowjetischen 1,95 Millionen, in der britischen 1,13 Millionen, in der französischen 30.000. Der Anteil der Katholiken an der Gesamtbevölkerung in den drei Westzonen erhöhte sich kaum (1939: 45,8; 1946: 45,9%), hingegen in der sowjetischen Zone von 6,1% (1939) auf 12,2% (1946). Dennoch kann allgemein von einer „Auflockerung traditioneller konfessionshomogener Gebiete“ (Braun) gesprochen werden. Das die Umschichtungsprozesse nicht so dramatisch waren, wie vielfach angenommen, lag auch daran, daß das demographische Verhältnis zwischen Katholiken und Protestanten in der Gesamtbevölkerung nur wesentlich anders war als bei den Flüchtlingen. Allerdings konnte es zu erheblichen landesspezifischen und regionalen Unterschieden kommen: So kamen weit mehr katholische Flüchtlinge in überwiegend evangelischen Bundesländern wie Hamburg oder Niedersachsen unter, als es dem Anteil der alteingesessenen Katholiken an der Gesamtbevölkerung entsprach. Diese Tatsache war besonders auf die unterschiedliche konfessionelle Zusammensetzung der einzelnen Vertriebenengruppen zurückzuführen, so bestand die landsmannschaftliche Gruppe der Sudetendeutschen zu 90% aus Katholiken.
Zwar wurden in keinem der Stadt- und Landkreise der Bundesrepublik die Heimatvertriebenen in konfessionell rein anders strukturierten Gebieten angesiedelt, aber erheblich verändert wurde innerhalb der Gemeinden und Kreise der Umfang der beiden Konfessionsgruppen und damit ihr Verhältnis zueinander. Global, auf das Gebiet der Bundesrepublik umgerechnet, veränderte sich das Verhältnis der Konfessionsgruppen nicht zueinander: Die Zahl der Protestanten nahm von 1939 bis 1950 von 49,6% auf 51,2% zu, die Zahl der Katholiken nahm leicht ab, nämlich von 45,8% auf 45,2%. Das Gesamtverhältnis der Konfessionen zeigt also eine erstaunliche Stabilität. Anders dagegen, wenn man die Bevölkerung im ehemaligen Deutschen Reich mit der Bevölkerung in der Bundesrepublik vergleicht: 1933 stellten die Katholiken 32,9%, 1950 hingegen 45,2% – eine deutliche Annäherung an ein konfessionelles Gleichgewicht., das für das Selbstbewußtsein der Katholiken in der Bundesrepublik gewiß eine große Rolle gespielt hat.
Beide Kirchen haben sich früh der Heimatvertriebenen angenommen[182]. Die Vertreibung der Deutschen aus ihren angestammten Heimaten in Ost- und Südost-Europa warf allerdings für die Kirchen große Probleme auf, die aufgrund verschiedener Ursachen nicht immer befriedigend gelöst werden konnten, und Kritiker – zum Beispiel Carl Amery – daher gar von einem „Versagen des deutschen Katholizismus“ sprechen ließ. Auf die Argumente, die für oder gegen diese Kritik sprechen, und auf die organisatorischen und geistigen Probleme, die sich für die katholische Kirche aus den demographischen Wandlungen ergaben, kann und braucht hier nicht näher eingegangen zu werden. Teilweise handelte es sich um Integrationsprobleme, die weniger religiöse Ursachen hatten, sondern bei denen es sich „um ganz elementare Gegensätze von Einheimischen und Fremden“[183] handelte. Durch die plötzliche Vergrößerung der Gemeinden fehlte es häufig an den nötigen kirchlichen Unterbringungen. So kam es in vielen Gebieten zur wechselseitigen Zurverfügungstellung von Kirchenräumen für die Gottesdienste der anderen Konfession. Gewiß haben dieses und ähnliche Erlebnisse aus der Zeit der Vertreibung das allgemeine Klima im Verhältnis zwischen Katholiken und Protestanten in der späteren Bundesrepublik günstig beeinflußt[184].
Abschließend läßt sich sagen, daß sich durch die Bevölkerungsverschiebung das konfessionelle Gesicht Deutschlands nachhaltig verändert hat. Waren noch 1939 die Territorialgrenzen zwischen den verschiedenen Konfessionen deutlich sichtbar, so wurden die Konfessionsgrenzen nach 1945 zwar nicht aufgehoben, aber doch zumindest verwischt. Diese Verwischung ging mit dem Abbau von Konfessionsgrenzen auf der persönlichen Ebene einher. So stieg, wie bereits angedeutet, die Zahl der Mischehen. Die Bereitschaft Mischehen zu schließen war bei den Zugezogenen zudem erheblich höher als bei den Einheimischen. So lag in Nordrhein-Westfalen 1952 bis 1954 der Prozentsatz der gemischt heiratenden katholischen Heimatvertriebenen bei 36% gegenüber 25% der katholischen Gesamtbevölkerung.
Das neue konfessionelle Bild zwang die Katholiken, von dem „Ghetto-Dasein“, aus dem Bachem mit seinem berühmten Ausspruch den Ausweg zeigen wollte, endgültig zu verabschieden. Als eine gesellschaftliche Gruppe, die annähernd die Hälfte der Bevölkerung ausmachte, war diese Einstellung anachronistisch geworden. Auch war die politische Partei, mit der sich jetzt die meisten Katholiken identifizierten, keine politische Minderheit mehr: „Dem deutschen Katholizismus in der Bundesrepublik Deutschland fehlen alle äußeren Anlässe und zunehmend auch alle inneren Voraussetzungen für ein Gettodasein.“ [185] Die Katholiken und die katholische Kirche mußten neue Aufgaben im sozialen, religiösen und politischen Bereich entgegensehen, von denen die Herausforderung des interkonfessionellen Staats nicht die geringste war. Aufgaben und Chancen der Katholiken angesichts der „Normalität der Moderne“ (Karl-Egon Lönne) hat Kardinal Joseph Höffner in diesem Sinne wie folgt charakterisiert:
Die deutschen Katholiken leben in einer ‘pluralistischen Gesellschaft’, was Tag für Tag zum Dialog und zur Auseinandersetzung zwingt. Toleranz und Zusammenarbeit werden von den deutschen Katholiken als notwendig erachtet, weil sich die Katholiken aus der Kraft ihres Glaubens für das Gemeinwohl des ganzen Volkes mitverantwortlich fühlen. Es wäre übrigens irrig, unter den ‘Andersgläubigen’ nur die Protestanten zu verstehen. In der modernen Gesellschaft sind – neben den beiden Konfessionen – liberalistische, humanistische Bewegungen entstanden, mit denen die Katholiken sich geistig und praktisch auseinandersetzen müssen.[186]
6. Schlußbetrachtung
Der Auszug der christlichen Demokraten aus dem Ghetto der Konfessionspartei ist von der Öffentlichkeit mit unterschiedlichen Gefühlen aufgenommen worden. Kritisiert wurde vor allem von theologischen Kritikern aus protestantischen Kreisen mit unterschiedlicher Schärfe der ihrer Meinung nach gefährliche Säkularismus des Experiments. Politiker haben vor allem den allzu revolutionären oder allzu reaktionären Charakter der neuen Partei getadelt. Entsprechende Kritik ist den anderen christlich-demokratischen Parteien in europäischen Nachbarländern entgegengebracht worden: So bezeichnete der katholische Philosoph und Publizist Emmanuel Mournier das „plötzliche Anschwellen der christlich-demokratischen Parteien in ganz Europa“ als „ein Geschwür am kranken Körper der Christenheit“; der französische Sozialistenführer Guy Mollet hingegen hat – ähnlich wie Martin Niemöller in Deutschland – das Wort vom „Vatikanischen Europa“ als einer drohenden Gefahr in Umlauf gebracht. [187]
In gewisser Hinsicht korrespondiert die zwiespältige Kritik mit der inneren Heterogenität der christlichen Union und ihrem „neuen, in sich pluralen Ansatz“[188]. Im Gegensatz zum Nachkriegszentrum, das als faktisch katholische Partei durch die Klammer der gemeinsamen Weltanschauung zusammengehalten wurde, und im Gegensatz zur SPD, die sich als klassenfixierte Arbeiterpartei rekonstituierte, mußte die Union gemäß ihrem „Volkspartei“-Konzept von Anfang an auf Interessenausgleich zwischen sozial, weltanschaulich und politisch sehr unterschiedlichen Traditionen hinwirken. Dadurch setzte sie sich der Kritik aus, konnte aber auch erfolgreich auf die sich ausdifferenzierende Gesellschaft reagieren.
Ohne die Rückendeckung der Kirche hätte sich die Union gegenüber ihren Konkurrenten hingegen nicht durchsetzen können. Wahrscheinlich haben sich die katholischen Bischöfe schon 1945 für die Union und damit gegen das Zentrum entschieden; sie behielten sich jedoch – vornehmlich aus taktischen Gründen – eine endgültige Entscheidung vor, da der Erfolg des „Experiments“ anfangs keineswegs sicher war. Durch den Verlust des kirchlichen Rückhalts geriet das Zentrum in eine schwere Identitätskrise, da es sich traditionell als verlängerter Arm der katholischen Kirche verstanden hatte. Die dadurch zwingend notwendige Umorientierung des Zentrums, die von Carl Spiecker durch eine Erweiterung der Parteibasis versucht wurde, scheiterte am Widerstand der Zentrumsanhänger, die wie ein Teil der Führung (die sich zum größten Teil an Hamacher orientierte) nicht bereit waren, das ihnen vertraute Parteimilieu zu verlassen. Nach dem Übertritt Spieckers zur CDU verlor das Zentrum zunehmend an Bedeutung. Als Gründe dafür müssen unter anderem die geringe Innovationsfreudigkeit der Zentrumsmitglieder und ihre Unfähigkeit, die sozio- und konfessionspolitischen Veränderungen im Nachkriegsdeutschland wahrzunehmen, angeführt werden; das Zentrum, so Ute Schmidt, startete 1945 „mit den alten Fahnen in die neue Zeit“[189]. Zwar knüpfte auch die Union an soziale Milieus an, die bereits vor 1933 bestanden hatten; doch im Gegensatz zur CDU verschlossen erste Erfolge in seinen angestammten Hochburgen – besonders den weitgehend geschlossenen Gebiete Rheinland-Westfalens, jenen ehemals kirchlichen Territorien, die das katholische Bekenntnis beibehielten[190] – dem Zentrum den Blick auf die Realität: Ihm entging der Substanzverlust des katholischen Milieus, der sich bereits seit der Weimarer Republik abgezeichnet hatte. Schon vor seinem unrühmliche Ende 1933 hatte das Zentrum an Integrationskapazität verloren. Ein wichtiger Grund dafür war die zunehmende Politisierung der Arbeiter, die einen großen Anteil der Anhängerschaft ausmachten, und deren Abwanderung zu den Linksparteien. Nach 1945 kam es zu einer nachhaltigen Durchmischung der Konfessionszonen als Folge von Flucht und Vertreibung. Wenn diese Faktoren auch nicht unmittelbar die Gründung der Union verursacht haben, so haben sie sie doch zumindest begünstigt.
Freilich darf weder die Bedeutung der Kirche, noch die Bedeutung des „Milieus“ bei der Ausdifferenzierung des politischen Katholizismus nach 1945 überschätzt werden. Alle deutschen Planungen bewegten sich in dem von den Alliierten vorgegebenen Rahmen. Dies wurde in dieser Arbeit am Beispiel Nordrhein-Westfalens deutlich gemacht. Der Organisationsbruch, den die Preisgabe der Zentrumstradition bedeutete, lag auch im Interesse der westlichen Alliierten, die einerseits das Volksparteikonzept begrüßten, um eine Aufsplitterung des Parteienspektrums zu vermeiden, und die einen Verbündeten im Kampf gegen den Kommunismus suchten. Die Ziehung der Grenzen des neuen Landes an Rhein und Ruhr, dem wegen seiner wirtschaftlichen Resourcen große Bedeutung in der Nachkriegsplanung der Alliierten für Deutschland und Europa zukam, verschafften der Union einen Vorsprung vor ihren Konkurrenten. Die SPD und auch das in sozialer Hinsicht ihr nahestehende Zentrum rechneten sich in den agrarischen Gebieten des neuen Landes nur geringe Erfolgschancen aus. Für manche Zeitzeugen war daher die Gründung Nordrhein-Westfalens eine Entscheidung der Alliierten für die CDU. Kurt Schumacher nannte das Land sogar „tödlich“ für die SPD.
In dieser Arbeit wurden verschiedene Aspekte behandelt, die um das Thema des politischen Katholizismus kreisen. Dabei sollte unter anderem deutlich geworden sein, daß das Jahr 1945 keine „Stunde Null“ war, aber als Fixpunkt innerhalb des Auszugs der Katholiken aus dem „Ghetto“ in die bürgerliche Gesellschaft der Bundesrepublik eine große Bedeutung spielte. Viele wichtige Faktoren konnten freilich nicht berücksichtigt werden, so zum Beispiel die Frage des Zusammenhangs von Konfession und Wahlverhalten[191]. Karl Rohe hat darauf hingewiesen, daß sich ein „konfessionsgerechtes“ und „klassengerechtes“ Wahlverhalten keineswegs von selbst versteht: „Wenn wir wissen, daß Katholiken in sehr viel stärkerem Maße als Protestanten ein konfessionelles Wahlverhalten an den Tag legen oder daß Industriearbeiter die Sozialdemokratische Partei bevorzugen, dann wissen wir noch nicht, warum sie das tun.“[192] Eben deshalb muß vor schnellen Rückschlüssen von der Konfessionszugehörigkeit auf die Präferenz für eine bestimmte Partei verzichtet werden. Auch in dieser Arbeit sollte keineswegs der Eindruck erweckt werden, daß sich die Gründung der Union und der Niedergang des Zentrums ausschließlich aus konfessionellen Faktoren erklären ließe. Innerhalb eines Erklärungsansatzes, der „multikausal“ ansetzte, sollte vielmehr im Sinne Wolfgang Schieders der Blick auf das Verhältnis von Religion und Gesellschaft in der modernen Welt gelenkt werden[193].