Von Oliver Wieters
„One has to have the courage
of one’s pessimism.“
Ian McEwan
I
Das Frühwerk des 1948 geborenen englischen Schriftstellers Ian McEwan liest sich wie eine groteske Widerlegung der Behauptung, dass das Leben, das gewöhnliche Alltagsleben weitaus schrecklicher ist als Romanschreiber im allgemeinen zugeben wollen. Zumindest galten McEwans Erzählungsbände Erste Liebe, letzte Riten und Zwischen den Laken, sowie sein 1992 von Andrew Birkin verfilmtes Romandebüt Der Zementgarten in literarisch interessierten Kreisen als so schockierend, dass er von den Londoner Journalisten den Spottnamen „Ian Makaber“ erhielt. „Er sieht aus wie ein Schulmeister und schreibt wie ein Dämon“, mokierte sich damals die britische Tageszeitung The Observer über den jungenhaften Autor mit der altmodisch wirkenden Intellektuellenbrille. Auch in den USA löste sein Schreiben zunächst Befremden aus: So vertrat der amerikanische Kritiker John Leonard Ende der siebziger Jahre in einem Artikel für die New York Times den Standpunkt, dass es sicherlich interessant sei, dem Kopf McEwans einen Besuch abzustatten, aber darin wohnen möchte man nicht. Wie er sich dessen Innenleben vorstellte, machte er im Folgenden klar: An einem Fleischerhaken aufgespießt hänge Freud von der Decke herab, es sei stockdunkel und rieche nach Äther, und im Schuhschrank seien Totenköpfe. Jede sexuelle Handlung sei zum Scheitern verurteilt. Wir befänden uns, diagnostizierte Leonard, irgendwo zwischen Samuel Beckett und den Rolling Stones.
McEwan war, nach eigener Aussage, über die empörten Reaktionen auf seine Bücher „ehrlich überrascht“ und verteidigte sich mit dem Hinweis darauf, dass die Darstellung schockierender physischer Einzelheiten für Leser von Burroughs, Celine, Genet und Kafka keineswegs etwas Ungewöhnliches sei. Außerdem wäre es abwegig zu glauben, dass er sich an den Schreibtisch setzte, um darüber nachzudenken, womit er seine Leser als nächstes erschrecken könne.
McEwans Insistieren auf dem metafiktionalen Hintergrund seines Schreibens änderte freilich wenig daran, dass viele Kritiker sein literarisches Spiel mit Sex und Gewalt irrtümlich für ein getreues und – schlimmer noch – affirmatives Abbild der Realität nahmen. Dieses Missverständnis erreichte im März 1979 seinen grotesken Höhepunkt, als die BBC McEwans Fernsehspiel Geometrie der räumlichen Gebilde vom Produktionsplan absetzte, weil darin ein überdimensionierter Kunststoff-Penis eine Hauptrolle spielte. Mehrere BBC-Mitarbeiter, die sich mit dem jungen Autor solidarisierten, wurden entlassen. Dabei ist Solid Geometry, wie die zugrunde liegende Erzählung im Original heißt, alles andere als obszön. Vielmehr war das Stück als ein formales Experiment angelegt, das den im Fernsehen vorherrschenden Naturalismus in Frage stellen sollte. Ungeachtet seiner Aufklärungsversuche galt McEwan fortan bei einem Teil der Bevölkerung als „schmutzig“.
McEwans zweifelhafte Reputation als enfant terrible der englischen Literatur hat mit Sicherheit zu seiner Bekanntheit ebenso beigetragen, wie es den Blick auf tiefere Schichten seines Werks verstellt hat. Auch so lässt sich erklären, warum bis heute (2002) auffallend wenige Untersuchungen über sein mittlerweile auf zwei Erzählungsbände, acht Romane, ein Oratorium und mehreren Film- und Fernsehskripte angewachsenes Werk vorliegen, obwohl McEwan bereits 1976 den angesehenen Somerset Maugham-Preis gewonnen hat und 1983 sein Name auf einer Liste des amerikanischen Literaturmagazins Granta der 20 besten britischen Nachwuchsautoren auftauchte. Noch immer wolle man ihn ständig neben einem Müllberg oder einer toten Ratte fotografieren, obwohl er doch inzwischen ganz andere Bücher schreibe, beklagte er sich vor wenigen Jahren.
Um so größer war seine Freude, als er im Oktober 1998 für seinen jüngsten Roman Amsterdam – einer sarkastischen Gesellschaftssatire in der Nachfolge Evelyn Waughs – mit dem Booker-Preis ausgezeichnet wurde, der wichtigsten literarischen Auszeichnung Großbritanniens. Wenngleich die Entscheidung nicht unumstritten war, sahen viele Beobachter in ihr den vorläufigen Abschluss einer Entwicklung, die sich schon seit Jahren abgezeichnet habe. Aus Ian McEwan, dem Skandalautor, sei nun endlich ein ehrwürdiger Schriftsteller geworden. Entsprechend versöhnlich konstatierte der Juryvorsitzende Douglas Hurd an jenem Abend, man habe sich diesmal „für eine sardonische, aber weise Analyse der Moral und der Kultur unserer Zeit entschieden“.
Die Lobrede entbehrte nicht der Scheinheiligkeit, da der Schriftsteller einen wichtigen Teil seiner literarischen Identität der Opposition gegen die konservatve Regierung Margret Thatchers verdankt, unter der Douglas Hurd – mittlerweile ein passionierter Krimiautor – jahrelang den Posten des Außenministers bekleidet hatte. Manche sahen in Hurd sogar das Vorbild für den zynischen Buch-Außenminister Julian Garmony, der über eine Sex-Affäre zu Fall kommt. Gleichwohl gibt der Preis Anlass zu der Hoffnung, dass durch ihn die Rezeption von McEwans Schreiben in eine neue Phase eintritt, die Kritik simplifizierende Klischees hinter sich lässt und eine vorurteilsfreiere Sicht auf die Wurzeln und Verästelungen seines Opus erlaubt.
II
Bereits ein Überblick über sein Leben und Werk zeigt, dass McEwan keineswegs zu jener Kategorie von Schriftstellern gehört, die leichtfertig mit den Ängsten und Gefühlen ihrer Leser umgeht. Vielmehr gehört er zu jener Kategorie von Schriftstellern, deren Persönlichkeit „der Arbeit ihren Stempel aufdrückt und selbstverständlich, gar zwangsläufig durch sie hindurchscheint“, wie er einmal über die Malerin Anna Keel notiert hat.
Ian McEwans Werk lässt sich in drei Phasen einteilen: Im Mittelpunkt seiner frühen Büchern stehen häufig persönlichkeitsgestörte Jugendliche und junge Erwachsene. McEwan unterzieht ihre Sexualität einer unbestechlichen Analyse und deutet an, dass ihre Defekte im engen Zusammenhang mit der Krankheit der Gesellschaft stehen. Sein während dieser Zeit bevorzugtes Mittel – insofern hatten die Kritiker recht – ist der Schock.
Unter dem Einfluss des politischen Rechtsrucks nach dem Amtsantritt von Margret Thatcher, der Angst vor einem Atomkrieg als Folge des Wettrüstens, und den Gedanken seiner Frau Penny Allen, einer Heilpraktikerin und Astrologin, die er 1982 heiratete, wendet er sich Anfang der achtziger Jahre neuen Medien des Schreibens zu. Neben einem Hiroshima-Oratorium entstehen während dieser Zeit auch mehrere Filmskripte und Fernsehspiele. Inhaltlich richtet er seinen Blick von Innen nach Außen, in den politischen, gesellschaftlichen und historischen Raum. Verstärktes Interesse bringt er der Rolle von Frauen in der Gesellschaft entgegen.
In der Folgezeit wendet er sich der Ausarbeitung eines sich aus verschiedenen Quellen speisenden holistischen Weltbildes zu, das um die Versöhnung von Gegensätzen wie Schrecken und Entsetzen, Verstand und Gefühl, naturwissenschaftlichem und magischen Weltbild kreist. Besonderes Interesse bringt er dabei der Rolle von Frauen entgegen. Dem idealen Paar, das er mit Mozarts Zauberflöte als „göttliches Gespann“ feiert, stellt er die feindliche gesellschaftliche Wirklichkeit gegenüber. Kritisch erforscht er die conditio humana, überzeugt, dass die Menschheit nur Bestand hat, wenn sie sich bewusst wird, dass der Mensch Teil der Natur ist. Der Mensch, so McEwan, müsse sich von allem befreien, was das verhindere.
III
McEwan ist ein Autor, der sich nur ungern zu seiner Biographie äußert. Gleichwohl scheint festzustehen, dass seine Vita weniger spektakulär verlief als wie seine Bücher und sein zum Teil selbst geschaffenes Bild in der Öffentlichkeit vermuten lassen. Seine Kindheit in kleinbürgerlichen Verhältnissen war offensichtlich im großen und ganzen „ziemlich sicher und zufrieden“, wie er einmal erklärte, und wenn er einen äußeren Grund zum Aufbegehren hatte, dann allenfalls den, dass er sich „ein bisschen zu sehr behütet“ fühlte.
Ian Russel McEwan wurde am 21. Juni 1948 in der südenglischen Garnisionsstadt Aldershot, Hampshire, als Sohn des schottischen Hauptfeldwebels David McEwan geboren. Sein Vater war ein Berufssoldat, der sich bereits 1934 mit 17 Jahren freiwillig zur Armee gemeldet hatte, um der Arbeitslosigkeit in Glasgow zu entgehen. 1943 hat er den britischen Rückzug von der belgischen Grenze nach Dünkirchen mitgemacht. Ians Mutter Rose Lilian, dessen erster Mann im Krieg gefallen war, hatte aus dieser Ehe bereits zwei Kinder, die erheblich älter waren als Ian; er kam sich deshalb wie ein Einzelkind vor und war von der Vorstellung besessen, dass sich seine Eltern in Luft auflösen und er sich einer Familie mit mehr Geschwistern anschließen könnte. Er hat diese Phantasie 1994 in seinem Kinderbuch Der Tagträumer künstlerisch gestaltet.
Die Arbeit des Vaters brachte für die Familie wiederholt Übersiedlungen mit sich, zunächst nach Singapur, dann nach Libyen. In seinem Roman Ein Kind zur Zeit – einer subtilen Auseinandersetzung mit dem Wesen der Zeit, für die er 1987 den Whitbread-Preis erhielt – griff er ausgiebig darauf zurück und zeichnete ein lebendiges Bild seiner vermeintlichen „Einzelkindheit in heißen Ländern“, die „trotz der exotischen Orte“ angenehm langweilig verlaufen sei. Er beschreibt den „Schweiß und den durchdringenden süßen Duft von Mangofrüchten, englisches Gemüse auf dem Küchenherd und Gewürze in Dosen, die mit Drachen und Palmen bemalt waren“. Und er erinnert sich an die „unbedingte, besitzergreifende Liebe seiner Eltern“. Seinen Familie sah er in einem schillernden Licht: Den Vater als eine „ferne, von einer Besprechung zur nächsten schreitende Gestalt mit Dienstrevolver um die Hüfte“, und die Mutter als „eine zarte, an Schlaflosigkeit leidende Schönheit, die sich still um jeden sorgte, außer um sich selbst“. Die Beziehung seiner Eltern litt zu jener Zeit unter großen Spannungen, und McEwan erinnert sich an lautstarke Szenen, in deren Folge ihn sein Vater ein „Muttersöhnchen“ schalt – während er sich selbst eher als „Vatersöhnchen“ sah. Das Verhältnis zwischen David und Rose Lilian scheint sich erst verbessert zu haben, nachdem die Familie Mitte der fünfziger Jahre nach Libyen übersiedelte.
In dem damaligen unabhängigen föderativen Königreich wurde er 1956 Zeuge der Suez-Krise, die ihm erstmals eine Ahnung von der Macht politischer Entscheidungen für das Leben der Menschen eingab. Während seine Mutter gerade bei Verwandten in der Heimat weilte, musste Ian aus Angst vor antibritischen Übergriffen mehrere Wochen in einem Militärzelt verbringen, neben dem sich ein Maschinengewehrnest befand – eine für den kleinen Jungen einschneidende Erfahrung, denn erstmals stand er nicht mehr im Mittelpunkt der elterlichen Fürsorge. Ungeachtet dessen erschienen ihm die Jahre in Nordafrika wie eine „fünfjährige Idylle“: Es war nämlich, wie er in Ein Kind zur Zeit schreibt, „eine sichere, geordnete Welt, hierarchisch und fürsorglich. Kinder hatten ihren Platz zu kennen und sich, genau wie ihre Eltern den Erfordernissen und Beschränkungen des Militärlebens zu unterwerfen.“
Das Ende dieser Zeit „unproblematischer Zuneigung“ datiert auf das Jahr 1960, als der 12 jährige Ian auf ein Internat in Suffolk geschickt wurde. Zunächst fiel es dem sensiblen Jungen schwer, sich an den dort vorherrschenden „Nebel von komplizierten Regeln, Brutalität und ewigem Lärm“ zu gewöhnen. Obwohl es ihm allmählich gelang, sich mit der neuen Situation zu arrangieren, war er nur ein durchschnittlich motivierter Schüler und behielt die Jahre in Suffolk als „leere Zeit“ in Erinnerung.
Interessanter war da schon das Land, das sich zeitgleich in sein Blickfeld schob und das ihn in besonders intensiver Weise prägen sollte. Einen wichtigen Teil seiner Pubertät verbrachte er in Deutschland, wo sein Vater inzwischen stationiert war. „Wann immer ich an Deutschland denke“, sagte er 1999 bei der Entgegennahme des Shakespeare-Preises der Alfred Toepfer Stiftung im Hamburger Rathaus, „fällt mir mein Vater ein – in einem wörtlichen und intimen Sinne ist dies mein Vaterland.“ David McEwan verband nicht nur sein Kriegserlebnis mit diesem Land, sondern er blieb auch nach seiner Pensionierung hier und nahm eine Stelle in einer Paderborner Autowerkstatt an.
Seit 1960 fuhr Ian in den Ferien immer von Suffolk mit dem Zug und der Fähre nach Norddeutschland, um seinen Vater zu besuchen. Durch seine frühe Jugend hallten somit „weniger die Namen von Rock ’n Roll-Gruppen als diejenigen deutscher Kleinstädte – Nienburg, Celle, Fallingbostel, Gütersloh, Paderborn“. Hier verliebte er sich zum ersten Mal, lernte Angeln und Snooker, begleitete auch einmal einen Trupp britischer Soldaten zu einer Übung auf Skiern und machte seine ersten Erfahrungen mit deutschem Lager-Bier. Nachdem die Familie 1963 Urlaub in Berlin gemacht hatte, wo sich der 14-jährige Ian als begeisterter Hobby-Fotograf betätigte, ließ ihn die Berliner Mauer nicht mehr los. „Ich war fassungslos“, beschrieb er einmal seine damaligen Gefühle, „wie grausam diese Mauer die Stadt zerschnitt“. Durch dieses Symbol der deutschen Teilung wurde ihm erneut vor Augen geführt – wie schon sieben Jahre zuvor angesichts der Suez-Krise -, „dass bedeutende politische Ereignisse unmittelbare persönliche Folgen haben“. Vierzehn Jahre später sollte daraus, nach einem Besuch in Moskau, die Idee zu einem Roman über den Kalten Krieg entstehen: Unschuldige. Eine Berliner Liebesgeschichte – seine wohl intensivste Auseinandersetzung mit Deutschland.
Der Fall der Berliner Mauer – der in seinem Roman Schwarze Hunde aus dem Jahr 1992 eine zentrale Rolle spielt – war für McEwan von ganz persönlicher Bedeutung: Auf diese Weise habe eine Familie binnen einer Generation erfahren, wie die europäische Geschichte in diesem Jahrhundert eine entscheidende Wende nahm, legte er in seiner Shakespeare Preis-Rede dar:
„Die für meinen Vater prägende Begegnung mit Deutschland war der Strand von Dünkirchen, meine war der Augenblick, als ich inmitten einer jubelnden Menge am Potsdamer Platz im Niemandsland stand.“
In den sechziger Jahren hatte sich der sprachbegabte Jugendliche für ein Studium der englischen und französischen Philologie an der Universität von Sussex entschieden. Obwohl der Kontakt zu seinen Eltern auch während der folgenden Zeit nicht abriss, kehrte Ian erst im Sommer 1972 für längere Zeit nach Deutschland zurück. Unter dem Einfluss der allgemeinen Politisierung war McEwan inzwischen „leicht verspätet zu einem energischen und extrovertierten Hippie geworden“, wie sich seine spätere Frau Penny Allen erinnert, und durchquerte in einem VW-Bus den Iran und Afghanistan. Anschießend verdiente er sich in München seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf exotischer Hemden aus Kabul. In der bayerischen Landeshauptstadt spielte sich damals, so McEwan in seiner Shakespeare-Preis-Rede, alles ab, was an Musik und Lifestyle verrückt und anarchisch war. „Es war eine verrückte Zeit, und alle meine Freunde waren – auf gutartige Weise – ebenfalls ziemlich verrückt.“
1972 war aber auch das Jahr der unglücklichen Münchner Olympischen Spiele, und während seines Aufenthalts in der Stadt hatte McEwan zeitweilig den Eindruck, dass die Gewalt vom Terrorismus in die Bars überzuschwappen drohte. „Nie werde ich den Anblick eines Mannes vergessen, der vor meinen Augen einen Kopfschuss erlitt“, erzählt er, ohne nähere Angaben über den schrecklichen Zwischenfall zu machen, dessen Zeuge er wurde.
Indes täuschte die Pose des selbstgenügsamen Aussteigers, in der er sich damals zu gefallen schien. Denn schon kurze Zeit später hatte er sich die langen Haare abgeschnitten und konzentrierte seine Kraft ganz auf das Schreiben.
Der Realisierung seines langgehegten und ehrgeizigen Plans, Schriftsteller zu werden, war er durch einen glücklichen Umstand nähergekommen: Während seines Studiums an der Universität von Sussex, das er 1970 mit dem Grad eines Bachelor of Arts (B.A.) in Englischer Literatur abschloss, war ihm zu Ohren gekommen, dass die Universität von East Anglia in Norwich einen Studiengang in kreativem Schreiben eingerichtet hatte. Dieses damals noch einsame und keineswegs unumstrittene Novum im britischen Bildungssystem stand unter der Obhut der renommierten Schriftsteller Malcom Bradbury und Angus Wilson. McEwan bewarb sich bei ihnen und wurde ihr erster und damals auch einziger Creative Writing-Student. Die in der Folgezeit entstandenen acht Erzählungen reichte McEwan 1972 als Magisterarbeit ein. Es besteht kein Zweifel, dass sie stark von den Kursen beeinflusst wurden. Einige von ihnen erschienen zunächst in amerikanischen und britischen Zeitungen, bevor sie 1975 in seinen umstrittenen Debütband Erste Liebe, letzte Riten eingingen.
IV
Wer McEwans frühe Geschichten gelesen hat, dürfte ein wenig überrascht davon sein, dass dem jungen Autor die Ideen dazu nicht im hektischen Treiben einer europäischen Großstadt kamen, sondern im Verlauf stundenlanger und selbstvergessener Wanderungen durch die freie Natur. Jedes Mal, wenn er seine Eltern in Norddeutschland besuchte, nahm er sich literarische Arbeit mit und beendete eine ganze Reihe von Texten in der ebenso kargen wie idyllischen Heidelandschaft hinter Paderborn.
Davon finden sich in seinen ersten Büchern freilich kaum noch Spuren, statt dessen überwiegt in ihnen ein Gefühl „grenzenloser großstädtischer Traurigkeit“, wie es in der futuristischen Erzählung „Zwei Fragmente: Samstag und Sonntag, März 199-“ heißt. Dem chaotischen Treiben in der Metropole korrespondiert die innere Orientierungslosigkeit ihrer Einwohner – viele der zumeist jugendlichen Protagonisten leiden unter schweren sexuellen, emotionalen und moralischen Störungen. Ihre Deformationen macht sie zu Großstadtmonaden, die im postindustriellen waste land auf der Suche nach Liebe und Anerkennung planlos umherirren. Die wenigsten von ihnen werden fündig, häufig schlägt die Erfahrung innerer und äußerer Leere in schockierende Gewaltexzesse um. So schon in der Erzählung „Schmetterlinge“ aus dem Debütband Erste Liebe, letzte Riten, die bereits wesentliche Merkmale von McEwans Erzählkosmos trägt.
„Schmetterling“ wird von einem jungen Mann erzählt, der keine normale Pubertät durchläuft, weil sein Gesicht wegen eines fehlenden Kinns grotesk entstellt ist und niemand etwas mit ihm zu tun haben will. Statt dessen sucht er nach Anerkennung bei der neunjährigen Jane, deren Bekanntschaft er eines Tages macht. Als sie ihn zufällig berührt, wird er von seinen sexuellen Trieben überwältigt und lockt die Kleine unter eine Brücke, wo er ihr angeblich Schmetterling zeigen will; statt dessen vergeht er sich an ihr und ertränkt sie anschließend in einem Kanal.
Die Erzählung ist so schrecklich, dass sich McEwan später von ihr distanziert hat. Sie sei von jemanden geschrieben worden, erklärte er 1983 (inzwischen war er Vater geworden), der noch keine Ahnung von Kindern hatte. Ungeachtet dessen zeigt „Schmetterlinge“ in formal überzeugender Weise McEwans große Fähigkeit, das Erwachen der jugendlichen Sexualität unvoreingenommen zu beschreiben.
[Gekürzte Fassung]