Gutachten / Votum zu David Biale, „Eros and the Jews. From Biblical Israel to Contemporary America“, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1997
Von Oliver Wieters, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 1998
Die Geschichte der Juden ist Gegenstand unzähliger Untersuchungen; daß es aber immer noch „weiße Flecken“ gibt, beweist das vorliegende Buch des amerikanischen Historikers DAVID BIALE über die Geschichte der jüdischen Sexualität. Für Biale ist Sexualität ein kulturelles Phänomen, im Gegensatz zum Sex, dem physischen Akt im engeren Sinne. Sexualität ist seines Erachtens gleichzeitig Agens und Produkt der Geschichte. Folglich fänden sich in ihr auch die Sedimente der allgemeinen Geschichte der Juden. Die Sonderstellung der Juden und ihre historisch gewachsene Sexualität müssen daher miteinander korrespondieren. Neu ist dabei Biales Blickwinkel und nicht das Material, das er in chronologischer Ordnung präsentiert. Ihm gelingt es, Sexualität als eine identitätsbildende und -verhindernde Kraft in der Geschichte darzustellen, ohne gänzlich einem freudianischen Reduktionismus zu verfallen.
In biblischer Zeit wurde Sexualität in enger Beziehung zur Identität der Juden als Volk behandelt. Hier wurden nach Biale die Grundlagen gelegt für ein ambivalentes Verhältnis der Juden zur Sexualität: Ethnische Transgressionen wurden zwar streng geahndet, waren aber an der Tagesordnung und zum Teil Ausgangspunkt der Zeugung späterer Helden (wie im Falle von Ruth, der Moabiterin und Ahnin König Davids). Im Sinne der jüdischen Einheit von einem Gott, einem Volk, einem Land und einer Ehefrau wurde eine Grenze gezogen zwischen Juden und Nichtjuden. Fruchtbar zu sein und sich zu mehren wurde zum Gebot, um den Fortbestand des jüdischen Volkes zu garantieren. Eine Auseinandersetzung mit den Vor- und Nachteilen von sexuellem Verlangen findet allerdings erst im Talmud statt. Im Gegensatz zur verbreiteten Auffassung, im Judentum gäbe es ein durchgehend positiveres Verhältnis zur Sexualität als im Christentum (Ablehnung des Zölibats), deckt Biale auf, daß sich auch in jüdisch-talmudischer Zeit eine ambivalente Wertung von Sexualität und – teils in Anlehnung an die Stoa – eine deutlich lustfeindliche Auffassung herausbildete. Nach einer verbreiteten Interpretation sollte die Beschneidung daran erinnern, daß die Sexualität nicht dem Verlangen, sondern der Fortpflanzung zu dienen habe, und zugleich sollte das Studium der Thora das sexuelle Verlangen des Schülers sublimieren.
Der Zionismus nahm diese Sexualmoral zum Ausgangspunkt, um eine „sexuelle Revolution“ zu fordern, wie Biale in einem späteren Kapitel seines Buches deutlich macht. Sie sollte dazu beitragen, einen neuen jüdischen Menschen zu schaffen, der den jüdischen „Luftmenschen“ in heimischer Erde „einwurzelt“. Die Zionisten bedienten sich bewußt und unbewußt antisemitischer Vorurteile: Da Juden früher geschlechtsreif seien, wären sie den sexuellen Verirrungen der westlichen Urbanität besonders stark ausgesetzt. Als Antidot wurde von den zionistischen Führern eine Rückkehr zu einfachen agrarischen Tugenden vorgeschlagen: Arbeit statt Eros, parallel zur überkommenen Forderung „Thora statt sexuellem Verlangen“. Die angestrebte sexuelle Revolution des Zionismus‘ verfing sich rasch in ideologischen Widersprüchen und führte dazu, daß sich in den Kibbuzim eine neue Prüderie herausbildete. Biale zeigt auf diese Weise auf, wie sehr traditionell gewachsene sexuelle Prägungen bis in unsere Zeit wirkungsmächtig bleiben und durch keine einfache Bewußtseinsentscheidung außer Kraft gesetzt werden können.
Damit bereichert er die Sichtweise der „jüdischen Frage“ in der Moderne. Durch den Paradigmenwechsel im Übergang von der Vormoderne zur Moderne, der für die Juden so tiefgreifend war, spitzte sich das Problem jüdischer Sexualität in Parallele zur sogenannten Judenfrage insgesamt zu. Wenn es stimmte, daß Juden eine andere Sexualität als Nichtjuden hatten, dann wurde auch die Sexualität zum Gradmesser für den erreichten Stand der jüdischen Emanzipation. Statt dessen verfestigten sich aber Stereotypen wie das Bild des sexuell hyperaktiven männlichen Juden, der es mit Vorliebe auf nichtjüdische Frauen abgesehen habe. Heute macht sich darüber Woody Allen in seinen Filmen lustig, in einer Weise, die es auch „Gentiles“ erlaubt, sich mit der Galerie von Allens neurotischen, explizit jüdischen Charakteren zu identifizieren. Aber noch in den sechziger Jahren rief das Erscheinen von Philip Roths Roman „Portnoys Beschwerden“ wütende Proteste von jüdischer Seite hervor – unter anderem von Gershom Scholem -, weil sich der jüdische Protagonist Portnoy unverblümt zu seinen sexuellen Normbrüchen und seiner Vorliebe für Nichtjüdinnen bekennt und dadurch ein antijüdisches Klischee wiederzubeleben schien. „Roths Verbrechen“, so Biale, „bestand in den Augen seiner [jüdischen] Kritiker darin, daß er ihren Traum zunichte gemacht hatte, die sexuelle Andersartigkeit der Juden sei eingeebnet worden. Und das genau zu dem Zeitpunkt, da die sexuelle Revolution über Amerika hereinbrach und in der amerikanischen Kultur tiefgehende Ängste heraufbeschwor.“ Biale sieht diese Ängste bis heute nicht beruhigt. Sein – freudianisches – Gegenmittel besteht darin, sich durch eine Art Trauerarbeit den Prägungen durch die Geschichte der jüdischen Sexualität zuzuwenden und sie durchzuarbeiten.
Biale, geboren 1949 in Los Angeles, ist ein brillanter Autor. Dem Buch kommt es zugute, daß er kein Psychologe ist, sondern Historiker: Es präsentiert Materialien und verliert sich nicht in psychologischen Inspektionen in die jüdische Geschichte. Biale lehrt zur Zeit jüdische Geschichte an der Graduate Union in Berkeley, Kalifornien, dies ist sein drittes Buch, zuvor hat er eines über Scholem und die Kabbala und ein anderes über Macht und Ohnmacht in der jüdischen Geschichte geschrieben. Biale ist ein Kind seiner Zeit, ein Kind der amerikanischen sexuellen Revolution: Von dieser relativ sicheren Warte aus überblickt er die jüdische Geschichte und vermittelt unbewußt den Eindruck, sie liefe auf die jüdische Existenz in Amerika als Arkadia zu, in dem irgendwann durch good will auch die letzten Probleme jüdischer Sexualität gelöst werden können. Das wäre zu simpel gedacht, aber es stellte die zweifelsfrei vorhandenen Verdienste von Biale nicht in den Schatten. Biales Buch fehlt allerdings eine theoretische Grundlegung und eine Erörterung der orientierenden Methodik. Besonders aber die Problematik, ob ein Historiker, der zudem nicht Psychologe ist, nicht in Teufels Küche kommt, wenn er sich einem so schwer zugänglichen Fluidum wie der Sexualität in der Geschichte als Agens und Agenda zuwendet, hinterlässt Ratlosigkeit beim Leser.
Frankfurt am Main, am 29. Januar 1998
Oliver Wieters