Von Oliver Wieters
Es ist Hochsommer und Ogden, der Top-Spion des größten vermeintlich unabhängigen Geheimdienstes der Welt will einen Mord begehen: Sein Opfer, dem er bis in eine russische Kirche in Paris gefolgt ist, heißt Pawel Borowskij und ist einer der mächtigsten Oligarchen Russlands, die nach Glasnost ein Vermögen in kolossaler Höhe aufgehäuft haben. Aus den Augenwinkeln beobachtet Ogden den von schweren Gewissensnöten heimgesuchten Schwerverbrecher, der gerade vor einer Ikone um Vergebung für seine zahllosen Sünden betet, darunter die Versenkung des größten Unterseeboots der russischen Flotte. Vorsichtig zieht Ogden seine Pistole aus der Manteltasche und geht langsam auf ihn zu. Doch noch ehe er abdrücken kann, greift sich Borowskij mit den Händen an die Kehle und fällt mit einem Klagelaut tot zu Boden: Herzinfarkt infolge einer Überdosis von Antidepressiva und Wodka.
Der italienischen Thriller-Autorin Liaty Pisani verdanken wir die Einsicht, dass auch knallharte Spione von Zeit zu Zeit zum Psychiater müssen. In ihrem ersten Ogden-Roman Der Spion und der Analytiker, 1991 im italienischen Original und drei Jahre später auf Deutsch erschienen, legt sie ihren Helden auf die Couch eines Wiener Psychoanalytikers und läßt ihn zu einer nicht unbedingt schmeichelhaften Selbsterkenntnis gelangen, zu der sein von Selbstzweifeln verschonter Kollege James Bond unfähig war: „Um sich in diesem Beruf als Profi zu fühlen, genügt es, psychisch angeschlagen zu sein. Je gestörter, desto geeigneter, das ist alles.“
Auch Ogden, der weltgewandte, sympathische Spion ohne Vornamen mit einer Vorliebe für maßgeschneiderte Anzüge aus der Saville Road, ist alles andere als ein normaler Mensch. Bereits als Kind wurde er von Casparius, dem verstorbenen Gründer des mächtigen Söldnergeheimdienstes, zum Agenten ausgebildet. Die Narben seiner unglücklichen Kindheit haben sich Ogden tief eingegraben: Er ist unfähig zur Freude, empfindet für die Gesellschaft tiefe Fremdheit und hat sich als Schutz vor menschlicher Nähe – so Piatys von Wilhelm Reich entliehene Bezeichnung – einen „bombensicheren Charakterpanzer“ zugelegt. Um in einer Welt von abhörsicheren Krypto-Handys, geheimen Gästehäusern und gepanzerten Limousinen überleben zu können, muß ein perfekter Spion auch emotional „perfekt“ sein: Seine größte Gefahr sind kleine, scheinbar harmlose Offenbarungen, im allgemeinen post coitum. Dies gilt um so mehr, wenn er sich wie Ogden den Luxus eines Gewissens leistet.
In ihrem neuesten Roman Die Nacht der Macht zeigt Liaty Pisani auf ebenso spannende wie hintersinnige Weise, dass nicht nur Spionen, sondern auch Gewohnheits-Verbrechern das Gewissen zu schaffen machen kann. Zumindest wenn man so abergläubisch ist wie jener Pawel Borowskij, der zwar seine Gegner, nicht aber sein schlechtes Gewissen ausschalten konnte. Kurze Zeit vor seinem unrühmlichen Ende in der Kirche sagt ihm sein privates Medium Irina auf den Kopf zu, dass die durch seine Schuld auf dem Meeresgrund begrabenen Seeleute Rache fordern. Das Instrument dafür haben sie schon gefunden: In Gestalt des russischen Präsidenten Wladimir Sablin, einem Ex-KGB-Offizier, der den Oligarchen und der Mafia überraschend den Krieg erklärt hat. Sablin hat insgeheim den Dienst damit beauftragt, die Verantwortlichen für den Untergang zu eliminieren, hinter dem er zu Recht russische und tschetschenische Mafiosi, Oligarchen, ehemalige Genossen und ihre Handlanger vom einstigen KGB vermutet. Für Ogden, seinen Chef Stuart und die anderen Mitarbeiter des in Berlin nahe der Spree beheimateten Dienstes eine doppelt bezahlte Aktion vom „Typ A“ mit hoher Wahrscheinlichkeit, zu töten oder getötet zu werden. Der Sieger steht für sie von Anfang an fest: „Bald wirst Du tot sein, Genosse!“
Nach den Terroranschlägen in den Vereinigten Staaten wird man Liaty Pisanis fünften Ogden-Roman mit anderen Augen lesen, denn er spielt vor dem Hintergrund global operierender Verbrecher, deren Geschäfte von einer so enormen Größenordnung sind, dass sie Banken und Regierungen strammstehen lassen können. Die Kriminellen verfügen – darin Ogdens Dienst nicht unähnlich – über eine veritable Privatarmee, einen eigenen Satelliten und eigene Flugzeuge und sind sogar in der Lage, mit Hilfe islamistischer Terroristen einen Krieg in Tschetschenien zu entfachen, um den russischen Präsidenten zu diskreditieren und die eigenen Kriegsgeschäfte zu erweitern.
Die Welt im Würgegriff der kriminellen Globalisierung: So könnte das Motto des Romans lauten, dessen Illustrierung die italienische Autorin den manchmal etwas langatmigen Dialogen auflastet. Das im Roman mehr essayistisch als erzählerisch behandelte Themenspektrum reicht von der russischen Invasion in Afghanistan, über den Tod eines Demonstranten während des Globalisierungsgipfels in Genua bis hin zu gewagten Spekulationen über Osama Bin Ladens vermeintliches Engagement in Tschetschenien. Dass der Roman mit der Zerstörung des World Trade Centers endet, zeigt, wie sehr Pisani mit heißer Nadel gestrickt hat. Der deutsche Titel des Buches unterstreicht diesen Umstand zusätzlich: laylat al-qadr, die Nacht der Macht, nennen Muslime eine der letzten zehn Nächte des Ramadan, an dem der Koran herabgesandt wurde. Ein gläubiger Muslim, der in der Nacht des Ramadan betet, kann mit der Sündenvergebung Gottes rechnen. Von islamistischen Terroristen ist allerdings im Roman nur am Rande die Rede. Pisani geht es nicht um die religiös motivierten, sondern um die politischen Hintergründe des Terrors. So gesehen hätte es der Verlag besser bei dem Originaltitel Der Spion und der Präsident belassen sollen, der nahtlos an die Titel der früheren Ogden-Romane Der Spion und der Analytiker, Der Spion und der Dichter, Der Spion und der Bankier und Der Spion und der Schauspieler, angeschlossen hätte.
Wer die Ogden-Romane gelesen hat, weiß um Pisanis Einzigartigkeit in der heutigen Spionage-Literatur. Sie vermag nicht nur Spannung bis zum Zerreißen zu erzeugen, sondern zeichnet auch einfühlsame Porträts von Menschen, die sich in ihrer Welt so fremd fühlen wie Spione, die von Berufs wegen Außenseiter sind. Da verwundert es nicht, dass zu den literarischen Vorbildern der 1950 in Mailand geborenen Autorin, die als Dreizehnjährige zunächst mit Lyrik hervorgetreten ist, nicht nur Thriller-Klassiker wie Eric Ambler und John Le Carré gehören, sondern auch Altmeister der Menschenkunde wie Marcel Proust und Vladimir Nabokov. Zu den privaten Vorlieben Pisanis gehört zudem die Parapsychologie, die auch in Die Nacht der Macht wie selbstverständlich das Geschehen vorantreibt.
Pisani versteht es meisterhaft, einen spannenden Plot mit einem guten Stil zu verbinden. Seit ihrem ersten Ogden-Roman hat Liaty Pisani eine ganze Reihe brisanter Themen aufgegriffen, darunter den Absturz eines italienischen Zivilflugzeugs im Jahr 1980, das geraubte Vermögen von Nazi-Opfern in Tresoren Schweizer Banken und diesmal den Untergang des russischen Atom-Unterseeboots Kursk. Pisanis Romane treiben ein schillerndes Spiel mit der Grenze zwischen Fiktion und Realität. Man kann sich die Frage stellen: Was fasziniert eigentlich so viele Leser an diesen spannenden und brillant geschrieben literarischen Thrillern? Eine mögliche Antwort findet sich in Pisanis neuem Roman selbst: Während der Leser Ogden in Erfüllung seines Auftrags durch halb Europa folgt, geht es ihm ein wenig wie Verena, Ogdens neurotischer Geliebter: Der melancholische Spion und sein Dienst, so räsoniert sie, zeigen ihr immer wieder von neuem, dass es tatsächlich unzählige Gründe gibt, Angst zu haben und dass die Welt wirklich ein furchtbarer Ort ist.
Liaty Pisani, Die Nacht der Macht. Der Spion und der Präsident. Roman, aus dem Italienischen von Ulrich Hartmann, Zürich: Diogenes Verlag, September 2002 (Originaltitel: La spia e il presidente). Euro 21.90 / sFr 37.90, Leinen, 352 S. ISBN: 3-257-06328-8
© 2002 Oliver Wieters, Hamburg