von Oliver Wieters
Eine zierliche Frau reitet durch die Weiten Tibets, dem größten Hochland der Erde. Von ihrem Hengst Nagpo getragen, überquert sie die steilen Gebirgspässe, ihre Augen hinter einem schützenden Halstuch verborgen. Sie kann die Gefahren nicht sehen, aber sie kann hören, wie die Felsbrocken in die Tiefe poltern. Die mutige Deutsche, Jahrgang 1970, ist seit ihrem zwölften Lebensjahr blind. Im Gepäck hat sie den Plan zu einem ehrgeizigen Vorhaben: In der Hauptstadt Lhasa will sie die erste Blindenschule für Kinder ins Leben rufen.
Von ihren Abenteuern auf dem Dach der Welt berichtet jetzt Sabriye Tenberken in ihrem Reisebericht ,,Mein Weg führt nach Tibet“ und ihrem Kinderbuch ,,Tashis neue Welt“, mit denen sie sich seit September auf einer viel beachteten Lesereise befindet. Am Montag machte sie auf Einladung der Buchhandlung Nada in der Bergedorfer Hasse-Aula Station.
Sabriye Tenberkens Leben liest sich fast wie ein Märchen: Im Anfang war das Licht und das Leben war voller Farben. Dann, im Kleinkindalter, wurde bei ihr ein schleichender Verlust der Sehkraft diagnostiziert, die lange Reise in die Dunkelheit nahm ihren Anfang. Heute nimmt Tenberken nur noch Schatten wahr. Aber anstatt in Trübsal zu verfallen, hat sich die junge Frau einen Lebenstraum erfüllt.
Ihre Faszination für Zentralasien beginnt, als sie mit 18 Jahren in ihrer Heimatstadt Bonn eine Ausstellung tibetischer Kunst besucht. Für das blinde Mädchen öffnet der Ausstellungsleiter ausnahmsweise die Vitrinen und gibt ihm die Kulturgegenstände in die Hand – ein Erlebnis, das einen tiefen Eindruck bei Sabriye hinterläßt. Während ihres Studiums der Tibetologie entwickelt sie eine Punktschrift, um tibetische Texte lesen zu können. Ein Tübinger Mathematiker hilft ihr dabei, ein Computerprogramm zu entwickeln, mit dem tibetische Blinde Bücher lesen können. Trotz ihrer Behinderung beschließt sie, nach Lhasa zu reisen, um blinden Kindern zu helfen – allein, damit die Welt erfährt, wozu Blinde in der Lage sind.
„Blinde leben nicht schlechter als Sehende – nur anders!“
,,Die Tibeter glauben, daß Blinde von Dämonen besessen sind. Dabei sind Augenleiden dort weit verbreitet“, berichtet Tenberken. Dafür verantwortlich sind vor allem der beißende Yak-Rauch in den Hütten, Vitamin-A-Mangel und starke UV-Strahlen. ,,In Tibet gilt Erblindung als Strafe Gottes, Blinde werden als Tölpel beschimpft und besuchen keine Schulen“, so Tenberken.
Nachdem sie in Lhasa angekommen war, ritt sie wochenlang mit drei Begleitern von Dorf zu Dorf und entdeckte – trotz gegenteiliger Behauptungen der Behörden – blinde Kinder, die ans Bett gefesselt waren oder noch nie eine Schule betreten hatten. Das hat Sabriye Tenberken geändert: Heute leben in ihrer Schule 17 blinde Jungen und Mädchen. Inzwischen wird die Einrichtung auch von den Behörden geschätzt.
Aber das ist nicht die Hauptsache, auf die sie stolz ist. Sie will mit dem Vorurteil aufräumen, das Blinde nur bemitleidenswert sind und ihr Leben nicht in die eigene Hand nehmen können. Für Sehende, die ihr mit Mitleid begegnen, hat Tenberken deshalb nur Verachtung übrig. ,,Ich bin kein ‚blinder Engel'“, wehrt sie sich gegen irreführende Etikettierungen. ,,Ich habe auch Stacheln!“
„Blinde“, sagt Sabriye Tenberken, ,,leben nicht schlechter als Sehende, nur anders.“ Sie hatte noch nie das Gefühl, im Dunkeln zu stehen. ,,Alles, was ich erfahre, setze ich in bunte Bilder um“, sagt sie, ,,denn die Farben leuchten in der Phantasie besonders stark.“ Erst recht, wenn man so viel davon hat wie Sabriye Tenberken.
Bergedorfer Zeitung 2000