Notiz zu Gutachten / Votum zu Dominick LaCapra, „History and Memory after Auschwitz“, Cornell University 1998 (Entwurf)
Oliver Wieters, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 1998
Das vorliegende Buch des an der Universität von Cornell lehrenden amerikanischen Historikers Dominick LaCapra setzt thematisch dessen frühere Veröffentlichungen fort: Zuletzt erschienen von ihm „Soundings in Critical Theory“ (1989) und „Representing the Holocaust: History, Theory, Trauma“ (1994). Im Zentrum von LaCapras neuer Studie steht die Frage nach dem Verhältnis von Erinnerung und Geschichte nach der Shoah, wobei „nach“ nicht nur zeitlich verstanden werden soll, sondern einen fundamentalen Bruch in der Geschichte behauptet. LaCapra nähert sich seinem Gegenstand in Form einer grundsätzlichen theoretischen Erwägungen, fünf essayistischen Fallstudien und einem abschließenden Kapitel. Die Essays widmen sich im einzelnen dem deutschen Historikerstreit von 1986, den LaCapra als eine Generalprobe für die deutsche Wiedervereinigung vier Jahre später interpretiert (Kap. 2); A. Camus‘ La Chute im Blick auf den Holocaust und den Algerien-Krieg, wobei ersterer im Frankreich jener Zeit als Folie für letzteren herangezogen wurde (3); C. Lanzmanns epochalem Film „Shoah“, der dem Selbstverständnis seines Regiseurs nach in erster Linie Kunst sein will und jeden Versuch, den Holocaust „zu verstehen“, radikal in Frage stellt, wozu sich LaCapra kritisch äußert (4); A. Spiegelmans „Maus“-Comics, die der Autor respektvoll mit Lanzmanns Film vergleicht (5); schließlich dem Thema Erinnerung im Zusammenhang von Psychoanalyse und Moral, wobei es Professor LaCapra unternimmt, die Psychoanalyse im Hinblick auf ihr Trauerarbeit-Instrumentarium neu zu durchdenken (6).
Thematisch ist LaCapras Buch mit der Studie J. E. Youngs „Writing and Rewriting the Holocaust“ (deutsch „Beschreiben des Holocaust“) verwandt. Wie Young versucht auch LaCapra das Verhältnis zwischen Geschichte und Erinnerung genauer zu definieren. Zwischen zwei extremen Positionen, einerseits eine deutliche Opposition zwischen Erinnerung und Geschichte, andererseits tendenziell eine Gleichsetzung, nimmt er eine vermittelnde Haltung ein: Er anerkennt die Erinnerung als entscheidende Quelle der Geschichtswissenschaft, die zwar nicht die Bedeutung einer genauen, aus der Erfahrung stammenden Repräsentation besitzt, gleichwohl informativ ist, insofern sich wichtige Erkenntnisse aus der Art und Weise der Rezeption des Gegenstandes gewinnen lassen. LaCapra fordert in diesem Zusammenhang eine kritische, sachliche Begründung der Erinnerung („a critically informed memory“[20]) und unterscheidet zwischen einer „primären“, ursprünglichen Erinnerung (die nie in Reinform vorliegt), und einer „sekundären“, kritisch aufgearbeiteten Erinnerung. Die sekundäre Erinnerung ist das Ergebnis der von LaCapra erkannten Interaktion von Erinnerung und Geschichte.
Deutsche Textprobe
(Schlußteil der Einleitung, Übersetzung von Oliver Wieters)
„Ich müchte mit dem Hinweis schließen, daß dem Wort ’nach‘ im Titel dieses Buches nicht nur eine zeitliche Bedeutung zukommt. Vieles hat sich durch die Shoah verändert, und sogar Ereignisse, die sich früher zugetragen haben (einschließlich, zum Beispiel, einiger Texte Heideggers und Nietzsches), können seitdem nicht mehr in der gleichen Weise verstanden oder „gelesen“ werden. Ohne daß der Holocaust zu einem telos der älteren Geschichte geworden wäre, entfaltete er dennoch eine nach rückwärts gerichtete Wirkung und zeitigte späte Erkenntnisse, die einige Aspekte der Geschichte in einem neuen Licht erschienen ließen. War Auschwitz und alles, wofür der Name steht, demnach einmalig? Es ließe sich argumentieren, daß die Shoah sowohl einmalig (denn diese Art Genozid hatte es bisher nicht gegeben) als auch vergleichbar war (wie sehr ähnelten Hitlers Lager dem Gulag Stalins?). Andererseits war die Shoah weder einmalig noch vergleichbar, denn von einem bestimmten Standpunkt aus sind alle Komparative (besonders hinsichtlich der Grüße) ohne Bedeutung und sogar die Superlative (um einen Ausdruck Spiegelmans zu gebrauchen: „das zentrale Traume des zwanzigsten Jahrhunderts“) erscheinen als fragwürdig, es sei denn, sie dienen zum Ausdruck der eigenen Schwierigkeit, mit dem Problem zu Rande zu kommen. Bestenfalls sollten Behauptungen von Einmaligkeit und Vergleichbarkeit in einer den Haltungen und Urteilen des jeweiligen Subjekts angepaßten Weise problematisiert und gerechtfertigt werden. Während des Historikerstreits, als es eine weitverbreitete Tendenz zur Normalisierung gab, hätte sich die Behauptung, daß der Holocaust einmalig war, vielleicht noch verteidigen lassen künnen, besonders wenn sie von Deutschen stammte. Aber derartige Behauptungen sind suspekt, wenn sie dazu dienen, die Politik Israels zu rechtfertigen oder den eigenen Sonderstatus zu begründen. Der umfassendere Gesichtspunkt, wie ich in meinem ersten Kapitel zu verstehen gebe, ist, daß der Holocaust in einem spezifischen, nichtnumerischen und [noninvidous] Sinn „einmalig“ war. In ihm wurde in extremer Weise eine Hemmschwelle oder Außengrenze überschritten, und wann immer dies geschieht, trägt sich etwas „Einmaliges“ zu und die geläufige Opposition von Einmaligkeit und Vergleichbarkeit wird außer Kraft gesetzt. Gleichzeitig verlieren die Komparative (besonders hinsichtlich der Grüße) ihre gewohnten Maßstäbe und Grundlage.“
Frankfurt am Main, am 15. Januar 1998
Oliver Wieters