Von Oliver Wieters
Hans van der Loo und Willem van Reijen, Modernisierung. Projekt und Paradox, aus dem Niederländischen übersetzt von Marga E. Baumer, München: dtv 1992. 279 S., DM 22,80.
Dieses 1990 an der Rijksuniversität Utrecht entstandene Buch setzt sich kenntnisreich mit der Modernisierungsdebatte auseinander, die in den Sozial- und Geisteswissenschaften seit Jahrzehnten leidenschaftlich geführt wird. Unter Modernisierung verstehen die Autoren dabei einen „Komplex miteinander zusammenhängender struktureller, kultureller, psychischer und physischer Veränderungen, der sich in den vergangenen Jahrhunderten herauskristallisiert und damit die Welt, in der wir augenblicklich leben, geformt hat und noch immer in eine bestimmte Richtung lenkt“ (11). Die Moderne läßt sich in diesem Sinne nicht monokausal verstehen, sondern als ein Konglomerat scheinbarer Widersprüche (Paradoxa). Die beiden Utrechter Professoren versuchen dieses Phänomen auf der Basis eines von Talcott Parsons entwickelten Handlungsschemas zu erklären. Modernisierung deutet demzufolge auf eine Kombination von Differenzierung, Rationalisierung, Individualisierung und Domestizierung hin; zusammen bilden sie ein System von Konzepten, mit denen die Entwicklung des Menschen und der Gesellschaft veranschaulicht werden kann. Jedem dieser untereinander eng verbundenen Leitbegriffe entspricht ein charakteristisches Paradox, dem das Buch jeweils ein eigenes Kapitel widmet. Der Begriff Paradox, der sich wie ein Leitfaden durch das Buch zieht, erlaubt es den Autoren, scheinbar widersprüchliche Prozesse in der Moderne als „zwei Seiten derselben Modernisierungsmedaille“ (35) zu verstehen. Im einzelnen stellen sich die Paradoxa (oder Dimensionen) der Modernisierung für die Autoren wie folgt dar:
(a) Das Differenzierungsparadox. Differenzierung bedeutet für die Autoren, „daß Individuen, Gruppen und Organisationen der Gesellschaft spezialisierten, aber untereinander verbundenen Aktivitäten nachgehen. Es handelt sich um Arbeitsteilung im weitesten Sinn“ (82). Durch die Differenzierung weitet sich die Skala der sozialen Netzwerke immer mehr aus, sie werden größer, weiträumiger und veränderlicher; andererseits wächst durch diesen Prozeß die gegenseitige Abhängigkeit, da die Individuen zunehmend auf die Dienste anderer Menschen angewiesen sind. Somit kommt es im Laufe der Modernisierung im gesellschaftlichen Bereich sowohl zu einer Maßstabsvergrößerung als auch zu einer Maßstabsverkleinerung. Daraus entstehen Probleme der gesellschaftlichen Solidarität (was hält Menschen in einer differenzierten Gesellschaft noch zusammen), Probleme der sozialen Gleichheit (wie lassen sich unterschiedliche Aktivitäten gerecht bewerten) und psychische Probleme (denn die Ausbildung größerer Netzwerke zwingt die Menschen dazu, ihre Emotionen besser zu beherrschen und langfristiger zu denken). Die Autoren diskutieren in diesem Zusammenhang u.a. Denkansätze von E. Durkheim, N. Luhmann, K. Marx, M. Weber, A. de Tocqueville und N. Elias.
(b) Das Rationalisierungsparadox. Rationalisierung verstehen die Autoren als „das Ordnen und Systematisieren der Wirklichkeit mit dem Ziel, sie berechenbar und beherrschbar zu machen“ (118). Dieser Prozeß spielt sich auf der Ebene der Weltanschauung ab (wie er besonders in Max Webers Wort von der „Entzauberung der Welt“ zum Ausdruck kommt), hat aber auch konkrete Folgen für das individuelle und kollektive Handeln. Der Prozeß hat zwei Seiten: Einerseits Pluralisierung, andererseits Generalisierung. Gruppen und Individuen streben immer rationaler danach, in Übereinstimmung mit selbstgesetzten Werten ihre eigenen Ziele rational zu erreichen und bewirken auf diese Weise eine Pluralisierung der Welt. Zugleich werden dadurch übergreifende Werte und Bedeutungen „verwässert“. Für die Gesellschaft stellt sich hinsichtlich dieses Paradoxes die Frage der Legalität: Wie lassen sich Werte so formulieren, daß sie als allgemein bindend verstanden werden können? Diese Probleme werden vor dem Hintergrund der Theorien von M. Weber (Wertrationalität versus Zweckrationalität), K. Mannheim, F.W. Taylor, J. Habermas, und E. Goffman diskutiert.
(c) Das Individualisierungsparadox. In ihm finden sich Verselbständigung und Abhängig-Werden miteinander konfrontiert. Individualisierung umschreiben die Autoren als einen Prozeß, „in dem die Abhängigkeit des Individuums von seiner unmittelbaren Umgebung auf entlegenere Netzwerke verlagert wird“ (161). Die Frage stellt sich, ob das moderne Individuum wirklich eine selbständige und starke Persönlichkeit ist (wie es vermeintlich glaubt) oder ob es nur noch davon träumt. Angesichts der Unüberschaubarkeit einer zunehmend abstrakten und bürokratischen Welt erfährt das Selbst-bewußte moderne Individuum nicht selten Gefühle von Ohnmacht und Unfreiheit.
Eine Folge dieses Sachverhalts ist die partielle Psychologisierung der Welt. Chr. Lasch sprach in diesem Zusammenhang von der „Kultur des Narzißmus“, da das moderne Individuum seine ganze Energie an die Aufrechterhaltung eines positiven Selbstbildes verwenden muß. Richard Sennett sieht das moderne Individuum gar in einem endlosen Psycho-Geschwätz über die gegenseitigen Gefühle versinken. Das Individualisierungsparadox stellt die Gesellschaft vor die Frage der Integration: Wie können unterschiedliche individuelle Handlungen aufeinander bezogen werden, und wie kann ein sinnvoller Ausgleich zwischen kollektiven und individuellen Interessen hergestellt werden? Diskutierte Autoren sind in diesem Kapitel u.a. J.-J. Rousseau, G. Simmel, A. de Tocqueville, M. Weber, S. Freud, E. Fromm, Chr. Lasch, Th. W. Adorno, M. Horkheimer, R. Sennett, C.R. Rogers und A. Maslow.
(d) Das Domestizierungsparadox. Unter Domestizierung verstehen die Autoren die „Zähmung der natürlichen und biologischen Kräfte und damit das Optimieren der Möglichkeiten, welche Natur und Körper bieten“ (196). Das Paradox bezieht seine Spannung aus dem Miteinander von Dekonditionierung und Konditionierung. Der Mensch erringt zwar im Laufe der Jahrhunderte, besonders in der Moderne, durch die „Zähmung“ seiner eigenen und der äußeren Natur mit Hilfe verschiedener Techniken immer mehr Macht und Selbständigkeit (Dekonditionierung von der Natur), doch erkauft er sich diese Entwicklung durch eine neue Abhängigkeit von den technologischen Mitteln, die für die Erreichung dieses Zwecks nötig sind (Konditionierung von anderen). Daher das Resümee der Autoren: „Zunehmende Dekonditionierung der natürlichen Umstände kann nicht losgelöst von zunehmender psychischer und sozialer Konditionierung gesehen werden. Im Lauf der Modernisierung haben sich die Menschen immer unabhängiger von der Natur gefühlt, aber sie sind dabei zugleich abhängiger von anderen und von sich selbst geworden.“ (234) Gesellschaft muß diesbezüglich versuchen, eine Balance zwischen „Mensch und Natur“ herzustellen. Diskutiert werden in diesem Abschnitt u.a. Gedanken von H. Schelsky, N. Elias, S. Freud, A. Gehlen und M. Foucault.
Die Verfasser nehmen im großen und ganzen eine eher positive und optimistische Einstellung gegenüber dem Projekt der Moderne ein. Im Gegensatz zu den düsteren Prognosen von Max Weber und den etwas hoffnungsvolleren von Jürgen Habermas, der jedoch zumindest in seinen früheren Werken die Gefahr sah, daß der Bereich der „Lebenswelt“ (u.a. die Familie) im Zuge der Modernisierung unter dem Druck des „Systems“ (u.a. die Bürokratie) zusammenbrechen könnte, sind die Autoren der Ansicht, daß die offensive Kraft der Lebenswelt größer ist, als Weber und Habermas glauben. Positiv hervorzuheben ist, daß die Autoren wiederholt – und wie dem Rezensenten scheint: zurecht – den einmaligen Charakter des abendländischen Modernisierungsprozesses betonen. Er wäre ohne die Einwirkungen von Renaissance, Reformation und Aufklärung in Europa unvorstellbar. Eine vorbehaltlose Übertragung auf andere Kulturen kann verheerende Folgen haben. Das hat der Iran unter dem Schah, aber auch die Wirkung einer weltweiten „Coca-Cola-Kultur“ mit ihren zerstörerischen Folgen für lokale Traditionen gezeigt.
Vieles in diesem Buch wird dem Leser, der sich schon zuvor mit dem Thema auseinandergesetzt hat, bekannt vorkommen. Das ist keine Kritik, denn „Modernisierung. Projekt und Paradox“ ist in erster Linie ein Buch für Neugierige und „Newcomer“. Die enzyklopädische Aneinanderreihung und Referierung unterschiedlicher Stellungnahmen, wenn auch in vorbildlicher Klarheit dargestellt, könnte allerdings leicht einer Form des Relativismus Vorschub leisten, der im von den Autoren kritisierten Postmodernismus seinen Ausdruck gefunden hat. Am Ende des Buches hat zwar der Leser eine Menge über den Themenbereich der Modernisierung erfahren, doch fehlt ihm ein handhabbares Kriterium zu dessen Bewertung. Da die Verfasser scheinbar rein deskriptiv vorgehen, fällt es dem Leser schwer, aus dem Buch eigene Argumente für oder gegen die Modernisierung zu ziehen. Aussagen wie „zu düster“ (144) (zu Habermas und Weber), die für die eine oder andere Theorie geprägt werden, mögen in den Augen der Autoren zutreffend sein, doch bleiben sie letztlich in dieser Form eine Frage des Geschmacks. Um handhabbare Kriterien zu bestimmen, wäre eine philosophische Standortbestimmung der Autoren durchaus hilfreich gewesen.
Ein gewisses Problem des Buches liegt darin begründet, daß der Begriff „modern“ nicht begriffsgeschichtlich erläutert wird. Herkunft und Ursache der Modernisierung bleiben vage. Die Aussage: „Wir wissen, was ‘modern’ ist, wenn wir wissen, was ‘traditionell’ ist“ (267), eröffnet lediglich den Eintritt in einen endlosen Zirkel, der dem gleicht, wenn man „krank“ durch „gesund“ und „gesund“ durch „krank“ erläutern wollte. In dieser Hinsicht bleibt das Buch weit hinter der philosophischen Herleitung der Moderne entfernt, wie sie Jürgen Habermas in seinem „Philosophischen Diskurs der Moderne“ (1985) – ein Buch, dem auch diese Autoren offensichtlich einiges verdanken – geleistet hat.
Aus alledem resultiert: Das Buch liefert einen ausgezeichneten und klaren Überblick über wesentliche Aussagen zum Phänomen der Modernisierung, und es stattet den Leser mit einem hilfreichen Instrumentarium zu deren Strukturierung aus. Es ist in dieser Hinsicht sehr empfehlenswert und kann auch für den mit philosophischen Fragen weniger befaßten Geschichtsstudenten eine hilfreiche Grundlage für ein Studium von Modernisierungsprozessen sein.