Oliver Wieters
Ein Kapitel in Ian McEwans Buch Ein Kind zur Zeit aus dem Jahr 1987 handelt von einem konservativen Politiker, der sich überraschend aus der Politik zurückzieht und in einen Zustand kindlicher Regression fällt. Wenig später begeht er Selbstmord. Seine Frau, eine Physikerin, liefert eine Erklärung für sein bestürzendes Verhalten: „Er wollte berühmt sein und von Leuten gesagt bekommen, daß er eines Tages Premierminister sein würde, und er wollte der kleine Junge sein, den die Welt nichts anging, der keine Verantwortung hatte, von der Welt da draußen nichts wußte.“
Die Physikerin, so heißt es weiter, sieht im Scheitern ihres Mannes nur die Extremform eines allgemeinen gesellschaftlichen Problems. All das „ganze Streben und Schreien, das Manipulieren und Debattieren“ diene nur dazu, seine Schwäche nicht herauszulassen.
Dieses Motiv aus Ein Kind zur Zeit findet sich in abgewandelter Form in McEwans neuesten Roman Amsterdam wieder, für den McEwan Ende 1998 der Booker-Preis verliehen wurde. Hier ist es ein erzkonservativer Außenminister, der durch kompromittierende Fotos, die ihn in Frauenkleidung zeigen, zu Fall gebracht wird. Unfähig, sich selbst zu verteidigen, zieht er sich wie ein frustrierter Teenager in sein Bett zurück, während seine Frau, eine erfolgreiche Ärztin, die Verteidigung ihres Mannes gegenüber einer sensationslüsternen Presse in die Hand nimmt.
Beide Szenen verweisen auf ein Grundmotiv im Werk des britischen Schriftstellers: Formen der Regression, sexuelle Normverstöße, spontane Gewaltausbrüche und moralische Heuchelei kennzeichnen in seinen Büchern die Unfähigkeit der (männlichen) Protagonisten, den Ansprüchen einer chaotischen Gesellschaft gerecht zu werden.
Schritt in die Welt
Gesellschaftskritik hat schon immer eine wichtige Rolle bei McEwan gespielt, entzog sich aber oft der Aufmerksamkeit seiner Kritiker. Lange Zeit galt dieser 1948 als Sohn eines Armeeangehörigen in Aldershot Geborene, der seine Kindheit auf Militärstützpunkten in Singapur und Libyen verbracht hat, als Meister der „Gothic Novel“, der englischen Variante des Schauerromans. Insbesondere seit seinem Romandebüt „Der Zementgarten“ – der Geschichte einer inzestuösen Geschwisterbeziehung – aus dem Jahr 1978, das ihm das Lob Stephen Kings und den Spottnamen „Ian McCaber“, Ian der Makabre, einbrachte, klebt dieser Ruf an ihm. Noch heute, klagte er unlängst in einem Interview, wolle man ihn in England ständig neben einem Müllberg oder einer toten Ratte fotografieren, obwohl er doch inzwischen „ganz andere“ Bücher schreibe.
Daran ist McEwan aber keineswegs unschuldig. Lange Zeit schien er unwillig, das Graue und Wiederholbare des Alltags zu sehen. Immer lief alles auf spektakuläre, schockierende Effekte zu. Erst später öffnete sich sein Schreiben neuen Themen, unter anderem einer kritischen Erforschung patriarchalischer Machtstrukturen in der heutigen Gesellschaft. Im Rückblick, in einem Interview, stellte sich ihm dieser Prozeß als eine Reifung dar: „I stepped out into the world“.
In seinen letzten Büchern wie Ein Kind zur Zeit (der einfühlsam beschriebenen Geschichte einer Kindesentführung), Unschuldige (1989), Schwarze Hunde (1992) und dem gefeierten Roman Liebeswahn (1997) über einen von religiösen und erotischen Phantasien besessenen Mann, läßt sich sogar ein verhalten optimistischer, manchmal fast sentimentaler Ton vernehmen, der allerdings, sehr leise, schon immer im Chaos und der Gewalt seiner Geschichten mitschwang.
Good-bye to Thatcher
Sein neuester Roman könnte Anlaß sein, das einstige Vorurteil endgültig zu revidieren. Denn in Amsterdam stehen McEwans Leitmotive – Beziehungen, Sexualität, Feminismus, Zivilisationskritik, der Gegensatz zwischen Stadt und Land, Kunst und Macht (Kinder spielen diesmal keine große Rolle) – im Dienst eines ätzenden Porträts von Tony Blairs „Cool Britannia“. Das Ende der Major-Thatcher-Jahre erlaubt ihm erst eine umfassende gesellschaftliche Deutung all der Obsessionen und Probleme, die er zuvor zum Thema seiner Bücher gemacht hat.
Dabei zeichnet er ein sehr wirklichkeitsnahes Bild der sozialen Milieus, denen seine vier Protagonisten – ein Politiker, ein Komponist, ein Journalist und ein Zeitungsverleger – enstammen. Dem Buch ist auf jeder Seite anzumerken, wieviel Spaß es McEwan gemacht haben muß, „in der Welt der Arbeit“ zu schreiben.
Auch die Frage, die im Mittelpunkt des Romans steht, hat einen realen Hintergrund: Sie lautet, ob das Privatleben eines Politikers – in Amsterdam seine sexuellen Vorlieben – Gegenstand öffentlichen Interesses sein sollte. Daß es sich dabei um ein Problem mit weitreichenden Folgen handeln kann, hat vor wenigen Jahren die Clinton-Lewinsky-Affäre gezeigt. Schonungslos legt McEwan die gesellschaftliche Heuchelei offen, die solchen Skandalen innewohnt.
„Schockierend“ wie McEwans frühe Erzählungen ist am ehesten die Brutalität, mit der die Protagonisten – alles ehemalige Liebhaber der frühverstorbenen Molly Lane – ihre Ziele durchzusetzen versuchen: Der Komponist, Clive, greift nicht ein, als eine Frau vergewaltigt wird, weil er gerade eine Inspiration für eine neue Komposition hat, der Chefredakteur, Vernon, startet eine Schmutzkampagne, um die Auflagenhöhe seiner Zeitung zu steigern, und in Gang gebracht wird alles von dem eifersüchtigen Zeitungsverleger, der durch die Veröffentlichung kompromittierender Fotos den Außenminister und ehemaligen Liebhaber seiner verstorbenen Frau Molly zu Fall bringen will. Vor diesem Hintergrund steht der vermeintliche Freundschaftspakt, den Clive und Vernon nach Mollys Tod schließen: Sollte einer von ihnen jemals so leiden wie Molly, solle ihm der jeweils andere Freund den Gnadenstoß versetzen. Doch als die Freundschaft zerbricht, offenbart die Abmachung ihren teuflischen Kern: In Amsterdam, wo die Euthanasiegesetze liberaler als in anderen Ländern gehandhabt werden, kommt es zu einem makabren Showdown.
McEwan hat seine bisherigen Bücher vor einiger Zeit in einem Interview als „Romane der Krise und Verwandlung, der Durchgangsriten von großer Intensität für die Charaktere“ bezeichnet; von Liebeswahn gehe sogar die Bedrückung eines Alptraums aus. Demgegenüber schlägt Amsterdam bei allem schwarzen Humor einen leichteren und insbesondere ironischeren Ton an. Leicht, aber nicht seicht. Amsterdam ist keine „Fünf-Finger-Übung“ wie McEwans Schriftstellerkollege Will Self bei der Verleihung des Booker-Preises an McEwan gespottet hat. Während für McEwans frühere Bücher Autoren wie Franz Kafka, Thomas Mann, Nabokov oder E. M. Forster Pate gestanden haben mögen, erinnert Amsterdam vielmehr an die frühen Werke des englischen Satirikers Evelyn Waugh und an die Gesellschaftskommödien des Amerikaners John Updike. Brillant sind seine sarkastischen Beschreibungen der Londoner High Society, fesselnd seine Darstellung des Lake District, beeindruckend auch sein Porträt des künstlerischen Schaffens von Clive, dem Komponisten.
Welchen Weg McEwan in den vergangenen Jahrzehnten zurückgelegt hat, zeigt der Gewinn des Booker-Preises. McEwans Werk ist zu einem festen Bestandteil der englischen Gegenwartsliteratur geworden. Möglich wurde dies nicht zuletzt deshalb, weil er sich neuen Themen und Stilen geöffnet hat. Sein Schreiben läßt sich heute mit Recht als „sardonische, aber weise Untersuchung der Moral und der Kultur unserer Zeit“ verstehen, wie die Booker-Preis-Jury ihre Entscheidung begründete. Mit dem Verschwinden drastischer Schockeffekte und der Aufmerksamkeit für Zwischentöne hat sich sein Blick für die Probleme der zeitgenössischen Gesellschaft geschärft. Es ist nicht länger zu leugnen, dass Ian McEwan einer der unbestechlichsten Chronisten seiner Zeit ist. Sein Werk verdient das Interesse und die Sympathie der Leser.
Ian McEwan: Amsterdam. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Diogenes, Zürich 1999, 224 Seiten, 36,90 DM., ISBN: 3257062206
© Oliver Wieters, Hamburg