Erstveröffentlichung: 2004
Von Oliver Wieters
„Magier müsste man sein!“ dachte Phillip Sorge*) vor dreieinhalb Jahren als das Gefühl für den Neunjährigen noch neu war. Dann würde er diese elenden Kopfschmerzen einfach wegzaubern! Seit Tagen war er den Attacken hilflos ausgeliefert. Besonders vorm Einschlafen, wenn er im Bett lag und Harry Potter las. Sein Kopf fühlte sich an als ob Fluffy, der dreiköpfige Riesenhund aus „Harry Potter und der Stein der Weisen“ darin sein Unwesen trieb. Höllenschmerzen, stundenlang. Eigentlich sollte ein kleiner Junge so etwas nicht denken: „Aber mit diesen Schmerzen machte das Leben einfach keinen Spaß mehr!“
Im Sommer 2001 bemerkten Maria (46) und Ulrich Sorge (50) aus Hamburg eine eigenartige Veränderung an ihrem sonst so lebenslustigen Sohn. Der dunkelhaarige Wuschelkopf wirkte bekümmert und angespannt, seine braunen Augen leuchteten nicht mehr so fröhlich wie bisher. „Phillip war auf einmal extrem lärmempfindlich. Manchmal reichte eine harmlose Frage, um ihn komplett aus der Fassung zu bringen“, erinnert sich Maria an diese für alle anstrengende Zeit. Die technische Angestellte wirft ihrem Sohn einen verständnisvollen Blick zu. „Ich dachte, meine Eltern wollten mit mir schimpfen“, erwidert Phillip, der neben seinen Eltern am Küchentisch sitzt. „Tatsächlich wollten sie aber nur wissen, wie es mir geht.“
„Phillip ist ein tapferer Junge“, sagt sein Vater und klopft ihm aufmunternd auf den Rücken. „Statt Tabletten zu nehmen, ging er lieber Schwimmen oder zum Judo.“ Phillip nickt: „Sport hat mir dabei geholfen, die Schmerzen für einige Zeit zu vergessen.“ Nur wenn er schlief, hatte er keine Beschwerden. „Aber insgesamt wurde es nicht besser, eher noch schlechter. Sogar auf eine Reise mussten wir deshalb verzichten“, berichtet Ulrich.
In der Schule fiel es Phillip schwer, sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Aber weil er ein guter Schüler ist, merkten die Lehrer nicht, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Seine Eltern machten sich große Sorgen. „Eine junge Bekannte ist an einem Hirntumor gestorben. Deshalb wollten wir so schnell wie möglich wissen, was die Ursache für Phillips Spannungskopfschmerzen sind“, erinnert sich Maria.
Doch die Ärzte fischten im Trüben: Zwischen September 2001 und Januar 2004 konsultierte die kleine Familie mehr als ein halbes Dutzend Spezialisten. Die Kinderärztin vermutete einen allergischen Schnupfen. Sie verschrieb Antibiotika und eine Spezialbettwäsche gegen Milben. Ohne Erfolg. Im Oktober 2001 diagnostizierte ein HNO-Arzt eine Nebenhöhlen-Mangeldurchlüftung. „Er empfahl eine Operation. Aber wir hatten Angst vor möglichen Nebenwirkungen“, so Ulrich. Später stellte ein anderer Arzt fest, dass die Nebenhöhlen frei waren, wenngleich Phillip häufig unter Schnupfen zu leiden hatte. Auch eine Kernspintomographie brachte keinen Befund. „Immerhin wussten wir jetzt, dass Phillip keinen Tumor hatte. Das nahm uns unsere größten Ängste“, erinnert sich Maria.
An entspannendes Lesen und Malen wie früher war schon lange nicht mehr zu denken. „Phillips Schmerzen beherrschten immer mehr unseren Alltag“, erinnert sich Ulrich. Eine Brille brachte Anfang 2002 kurzzeitig eine Verbesserung. „Aber nach einem halben Jahr kamen die Schmerzen wieder. Auch eine Gesprächstherapie mit einer jungen Psychologin im Januar 2003, in der eventuell vorhandene familiäre Probleme erforscht wurden, brachte keine Lösung“, berichtet Ulrich. Phillip war traurig, zog sich in sich selbst zurück. Sein Schmerz wurde unerträglich. Seine Eltern waren verzweifelt. Erst als ihnen eine Kinderärztin im Januar 2004 vom Zentrum für Integrative Schmerztherapie im Klinikum Nord-Heidberg erzählte, von dem sie im Fernsehen gehört hatte, keimte in ihnen neue Hoffnung auf.
DEFLIN-KIDS
Phillip ist mittlerweile 12 Jahre alt als er mit seinen Eltern am 23. Februar 2004 das erste Mal die Sprechstunde von Dr. Raymund Pothmann besucht, dem Leiter des Zentrums für Integrative Kinderschmerztherapie. Das farbenfrohe Klinikum macht einen einladenden Eindruck. Im Sprechzimmer des großgewachsenen Arztes ist Spielzeug verteilt, am Eingang leuchtet das blau-gelbe Logo der Delfin-Kids: Ein zufrieden dreinblickender Delfin. Der Name steht für „die eigene Lösung finden“ – genau das, was Phillip bisher fehlte.
Dennoch: „Die Stimmung im Flur war etwas bedrückt“, erinnert sich Phillip. Pothmanns jüngste Patienten sind erst wenige Monate alt, die ältesten 16 Jahre. Neben Kopfschmerzen behandelt das Delfin-Projekt auch Bauchschmerzen, Brustschmerzen, Muskel- und Nervenschmerzen, Schmerzen bei Spastik, Gelenkschmerzen, Menstruationsbeschwerden oder Schmerzen bei Krebserkrankungen. Gemein haben fast all diese Patienten, dass sich bei ihnen die Schmerzen verselbständigt haben.
„Immer mehr Kinder klagen über schwere chronische Schmerzen“, erklärte der freundliche Arzt Phillips Eltern. Die Folgen können verheerend sein: „Körperlicher Schmerz bedeutet Angst, Einsamkeit, Hilflosigkeit, nimmt Kraft und Raum für die Selbstbestimmung.“ Die Erwachsenen wissen meistens gar nicht, wie sehr ihre Kinder leiden. Aus diesem Grund führen die Kinder von Anfang an ein lustig illustriertes Schmerztagebuch.
Auf einer Skala von 1 bis zehn wählte Phillip zielstrebig die zehn. Ein Gesicht mit weit herabhängenden Mundwinkeln. „Erst da wurde uns ganz klar, wie sehr Phillip bisher gelitten hat“, erinnert sich Ulrich.
Pothmann machte klar, dass nur eine Kombination mehrer Behandlungsmethoden Erfolg bringen kann. Dazu gehört ausreichendes Trinken, viele Ruhepausen, gesunde Ernährung und Entspannung. Pothmann empfahl dem sportlichen Jungen zunächst eine Diät. Die in vielen Nahrungsmitteln enthaltenen Geschmacksverstärker stehen im Verdacht, schmerzfördernd zu sein. Phillip sollte deshalb auf Weizenmehl und Schweinefleisch verzichten, lediglich Produkte wie Ahorn-Sirup und verdünnte Sahne waren ihm erlaubt. „Für mich als bekennenden Fast-Food-Fan war das ein Graus“, so Phillip.
Anschließend bekam er einen „TENS“, einen Schmerz-Walkman, der elektrische Impulse an Kopf und Nacken aussendet. „Das war sehr angenehm“, erinnert sich Phillip. Das kleine Gerät begleitete ihn überall hin, auch in die Schule.
Eine deutliche Verbesserung stellte sich ein als Phillip gegen seinen Dauerkopfschmerz Johanniskraut und Antidepressiva in geringen Mengen verabreicht bekam. „Der Einsatz medikamentöser Kurmittel soll den Körper umstimmen, die Eisberg Schmerz abzuschmelzen“, erläutert Pothmann. Denn nichts ist so falsch wie die Annahme, Schmerz härtet ab. „Die Vorteile der Schmerzbeseitigung überwiegen die Nachteile durch Nebenwirkungen.“
Am Schmerztagebuch ließ sich ablesen, dass die Schmerzen auf dem Rückzug waren. Aber erst eine erneute Röntgenaufnahme brachte den Durchbruch: Am 17. Dezember 2004 erkannte ein Arzt, mit dem das Zentrum zusammenarbeitet, eine chronische linksseitige Halswirbelblockade am ersten und zweiten Halswirbel. Der Arzt löste durch Ausübung eines kurzen Drucks auf das Gelenk die Blockade. „Ich hatte etwas Angst vor dem Knacks“, erinnert sich Phillip. Aber es war dann nur halb so schlimm. Für Phillip und seine Eltern war es wie ein Märchen. Bereits ein Tag später ließ der Schmerz nach. „Es war ein komisches Gefühl“, erinnert sich Phillip. „Er kam morgens die Treppe herunter und hatte keine Beschwerden. Zuerst konnte ich es gar nicht glauben“, erzählt seine überglückliche Mutter. Die Nervenimpulse werden jetzt ungestört weitergegeben. Für Phillip hat ein neues Leben begonnen.
Wenn er jetzt abends im Bett liegt, kann er beruhigt in seinem Buch lesen. Und Fluffy ist da, wo er hingehört: Tief im Verlies, wo er niemanden stört.
INFO
Die Häufigkeit von chronischen Kopfschmerzen bei Kindern hat sich in den letzten 30 Jahren – statistisch – verdoppelt. Bei rund 5 Prozent aller Vorschulkinder und 10 Prozent aller Schulkinder herrscht Beratungsbedarf. Häufig sind die Leiden vererbt. Manchmal sind Nahrungsmittel, schulische und familiäre Probleme, Bewegungsmangel und zu viel Fernsehen die Auslöser. Raymund Pothmann ist einer der ersten Kinderschmerz-Therapeuten Deutschlands. Ziel des Projekts ist die Förderung der Kompetenz der Kinder zur Selbsthilfe. Die DELFIN-Kids konnten auf diese Weise bisher rund 70 Prozent ihrer 400 Patienten helfen. Das Trainingsprogramm dauert 3 bis 6 Monate, wird unter anderem von der Techniker Krankenkasse unterstützt. Adresse: Delfin-Kids. Zentrum für Integrative Kinderschmerztherapie, Dr. med. Raymund Pothmann, Tangstedter Landstraße 400, Haus 10, 22417 Hamburg, Telefon 040 / 52 71 86 12. E-Mail: pothmann@delfin-kids.de, im Internet unter http://www.delfin-kids.de.
*) Namen geändert