Essays von Doron Rabinovici
Gutachten / Votum von Oliver Wieters, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 1998
I. Zu den einzelnen Essays
(1) „Wohin oder Der Preis der Nacht. Ein Nocturno für Leo Perutz“ (22pp.)
Doron Rabinovicis Essay, den er bereits im Literaturhaus München vorgetragen hat, ist eine Hommage an den in Prag geborenen Schriftsteller Leo Perutz (1882, gest. 1957 in Bad Ischl), den sich der Autor erklärtermaßen zum Vorbild gewählt hat. Rabinovici stellt heraus, daß es in diesem Text „nicht um mich“ gehe, sondern um Perutz, der ein Werk geschaffen hat, das den Leser mit schlafwandlerischer Sicherheit aller Sicherheiten beraube. Die Bücher von Perutz (der übrigens als Versicherungsmathematiker einige Zeit im selben Haus wie Kafka gearbeitet hat) zeichnen sich durch eine Vorliebe für Paradoxien, Irrationales und unscheinbare Begebenheiten aus, die sich zu unvorhersehbaren Katastrophen in Situationen existentieller Bedrohtheit ausweiten. In den Nachtstücken von Perutz, deren geistige Verwandtschaft mit Kafkas Werk unabweisbar ist, erkennt Rabinovici die Sedimente jüdischen Lebens und Leidens. Denn „wer verfolgt wurde, leidet unter Verfolgungswahn, aber bloß, weil er ein Realist ist“. Rabinovicis mit der Genauigkeit eines Literaturwissenschaftlers und der Passion eines geistesverwandten Autors geschriebener Essay handelt natürlich auch, wie könnte es anders sein, von seinem Autor selbst: Es waren Bekannte, die seine Erzählungen lasen und ihm daraufhin „diesen Großmeister zum Studium und zur Lektüre“ empfahlen. Rabinovicis Text spricht von Jüdischem, von Fragen der Identität, der Erinnerung und der Literatur; von der Historie und dem Leben; von Wahrheit und Wahnsinn. Es gibt einige brilliante Stellen in dem Essay, der durchgängig auf gutem Niveau geschrieben ist. Ein Beispiel:
„Flüchtete Perutz bloß ins Phantastische, ins Mystische, so könnte er uns nicht derart verstören. Er aber bringt die unterdrückten, unbewußten Momente zutage, weil unklar bleibt, ob er vom Jenseitigen spricht oder von dieser, unserer Welt; von einem Ort, der keine Gewißheiten bietet.“ (3).
(2) „Warum die Milch vom Fleisch getrennt werden mußte oder ‚Die gerettete Zunge‘ und das drohende Messer“ (11pp.)
Im Mittelpunkt von Rabinovicis zweitem Essay – der bereits in einem Sammelband von Patillo-Hess und Mario R. Smolle, „Canettis Aufstand gegen Macht und Tod“ (Wien 1996) erschienen ist – steht ein Anliegen Elias Canettis, das diesen zeit seines Lebens beschäftigt hat: Der Kampf gegen den Tod. Ausgehend vom titelgebenden Motiv des ersten Bandes der autobiographischen Romantrilogie Canettis, der „geretteten Zunge“, deckt Rabinovici Aspekte der psychologischen, historischen, religiösen und sprachlichen Verstrickungen auf, aus denen Canettis Todesverachtung erwachsen ist. Sein Ansatz ist biographisch-psychoanalytisch akzentuiert: So wird die Angst des jungen Canettis, die Zunge zu verlieren (die man dem Zweijährigen angedroht hatte, falls er über die Amouren seines Kindermädchens berichten würde) mit dem jüdischen Ritus der Beschneidung in Verbindung gebracht. Rabinovici läßt diesen Befund in eine allgemeine theologische Betrachtung über die Bedeutung von Opfer und Erinnerung in der Differenz von Christentum und Judentum übergehen: Die jüdische Errettung liege nämlich nicht im Glauben an ein Ende, an den jüngsten Tag, sondern „in der Erinnerung bis an den Anfang aller Zeiten, in der Abstraktion, in der Festschreibung des Stattgefundenen.“ (3) Signum und Mal der Erinnerung par excellence ist im Judentum die Beschneidung. Die tradierte Macht der Erinnerung, bei Canetti besonders vom Großvater repräsentiert und von der emanzipierten Mutter in Frage gestellt, sieht sich mit Einbruch der „vaterlosen Gesellschaft“ (Paul Federn) nach dem Ersten Weltkrieg nachhaltig in Frage gestellt. Bei Canetti, so realisiert Rabinovici, kann „dieses gesamtgesellschaftliche Drama in seiner jüdischen Ausgabe verfolgt werden“ (8). Ähnlich wie im Perutz-Essay liegt also auch hier ein Hauptaugenmerk Rabinovicis auf der historisch-kulturellen Bedingtheit der Texte und ihres Autors. Ohne Canetti oder Perutz fälschlich spezifisch jüdische Eigenschaften oder Einstellungen zuzuweisen, gibt Rabinovici auf diesem Wege der Meinung Ausdruck, daß die Darstellung der „höchst persönlichen Meinungen und die Entfaltung ihrer Wirkung“ einer „kulturell beeinflußten, wenn auch nicht einheitlich festgesetzten Dramaturgie“ (4) folge.
(3) „Instanzen der Ohnmacht. Canettis Übriggebliebene“ (11pp.)
Der dritte vorliegende Essay Rabinovicis setzt sich, von Elias Canetti ausgehend, mit dem Wesen der Macht oder genauer: mit dem Wesen der Ohnmacht auseinander. Der Text ist parallel entstanden zu einer Arbeit des Autors über die Reaktion der jüdischen Gemeinde in Wien auf die nationalsozialistische Vernichtungspolitik zwischen 1938 und 1945. Der Autor legt dar, welche Voraussetzungen die Ausübung von absoluter Macht über die Opfer im nationalsozialistischen Regime hatte. Von großer Bedeutung war der Umstand, daß die Opfer zu Agenten der eigenen Vernichtung gemacht wurden: Die jüdischen Gemeinden mußten für die jüdischen Opfer selbst Sorge tragen und unter Androhung von Strafe die Erlässe des Regimes durchsetzen. Die Perversion durch die Macht wurde noch nach 1945 fortgesetzt, als angebliche Mittäter, die während der Zeit des Regimes zur Kollaboration gezwungen worden waren, vor Gericht gestellt wurden. Was das geläufige Opferbild auch heute stört, ist die Erkenntnis der absoluten Perversion durch Macht. Der Autor legt dar, wie die Opfer die Logik der Verbrecher annehmen mußten, um mit ihnen verhandeln zu können. Die Täter mißbrauchten die Ordnung, die die Opfer zum Selbstschutz aufrecht zu erhalten versuchten. Noch über die sogenannte „Befreiung“ hinaus blieben die überlebenden Geiseln der über sie ausgeübten absoluten Macht. Im Gegensatz zu jenem stolzen Gefühl der Täter, überlebt zu haben – jenes Gefühl, gegen das Canetti besonders in „Masse und Macht“ so entschieden angekämpft hat – waren die Opfer, wie Rabinovici darlegt, „verurteilt sich selbst zu überleben“.
II. Resümee
Rabinovicis Essays kreisen um die Frage der jüdischen Identität. Auffällig die Heterogenität der Herangehensweise: Der Autor nähert sich in teils brillianter Weise, unter Aufbietung eines historischen, literaturwissenschaftlichen, psychologischen und theologischen Instrumentariums, seinem Gegenstand. Dabei behält er seinen jeweiligen Gegenstand gut im Auge. Dennoch würde den Essays – ohne ihre Qualität schmälern zu wollen – eine partielle Überarbeitung und die Reduzierung einer gewissen Tendenz ins Opake (besonders im zweiten Essay) nicht schaden. Auf den angekündigten dritten Text über Canetti (Arbeitstitel „Credo und Kredit“) sollte man vielleicht warten und sehen, wie die vorliegenden Essays publikatorisch geschlossener vorgelegt werden können.
Frankfurt am Main, am 14. Januar 1998
Oliver Wieters